Rezension

Yehya E. - Opfer des Systems oder seiner selbst?

In den Gangs von Neukölln - Christian Stahl

In den Gangs von Neukölln
von Christian Stahl

Bewertet mit 5 Sternen

Der gebürtige Palästinenser Yehya E. kommt mit seinen Eltern bereits mit wenigen Wochen nach Deutschland. Hier erhält die Familie jedoch lediglich den Status der „Duldung“, die eine jederzeitige Abschiebungsmöglichkeit beinhaltet, es dafür aber dem Familienvater verbietet, einer geregelten Arbeit nachzugehen. Der Staat geht von einer kurzen Aufenthaltsdauer aus.
Yehya E. wächst in Berlin-Neukölln auf, wo die Gesetze des Stärkeren gelten und es heißt, seine Rolle im jungen Alter zu definieren: Opfer oder nicht. Dabei kristallisiert sich schnell heraus, dass der charismatische Junge definitiv kein Opfer sein will und alles tut, um als Stärkerer zu gelten, um zu Ruhm und Respekt unter den anderen „Kiezkids“ zu gelangen.
In der Schule sowie zu Hause ist er lange der unauffällige, brave Schüler, der nur Einsen heim bringt, doch auf der Straße hat er längst schon die Führung übernommen, so dass er mit nur 15 Jahren den „Ritterschlag“ des Intensivtäters bekommt und auch in den Medien kein Unbekannter ist.

Christian Stahl, Journalist und ARD-Korrespondent, lernt Yehya auf seine eigene Weise kennen und schätzen, ohne anfangs zu ahnen, wer da vor ihm steht. Als die kriminellen Taten immer mehr in den Vordergrund rücken, begleitet er den Jugendlichen und recherchiert an seiner Seite, zunächst auch mit dem Ziel einen Film („Gangsterläufer“) mit und über ihn zu machen.
Er begleitet ihn durch die Höhen und Tiefen des jungen Lebens und schildert in diesem Buch seine Erlebnisse privat mit ihm ebenso, wie er Yehya den Platz einräumt, seine Sicht der Dinge zu schildern.
Diese beiden Seiten, ergänzt durch Polizeiprotokolle und anderen Daten, bieten eine ganzheitliche, neue Sicht der Dinge.
Wer bisher nur den Kriminellen Yehya E. sah, wie man ihn als Intensivstraftäter aus den Medien kannte, lernt hier auf 245 Seiten einen intelligenten, ehrgeizigen jungen Mann kennen, der Opfer wie Täter ist und sich – für mich persönlich sehr erstaunlicherweise – trotz seiner leider nach wie vor kriminellen Karriere doch verändert hat.
So waren ihm früher die Opfer egal, bei den letzten Taten hatte ich fast den Eindruck, er möchte niemanden mehr verletzen oder bedrohen. Dies soll natürlich seine kriminellen Handlungen in keinster Weise schmälern, jedoch wurden mir auch die Hintergründe seiner Perspektivlosigkeit vor Augen geführt.
Er hat selbst kaum eine Chance, über den Duldungsstatus hinauszukommen, womit – unabhängig von seiner kriminellen Vergangenheit – es quasi unmöglich scheint, Fuß zu fassen in unserer Gesellschaft, einen angesehenen Beruf zu erlernen und sich damit ein rechtschaffenes Leben aufzubauen. Im Jugendgefängnis bildete er sich weiter, machte seinen Abschluss und kämpfte dafür, sich für die Zeit „danach“ Perspektiven aufzubauen. Doch alles scheint umsonst gewesen zu sein, als er schon am zweiten Schultag aufgefordert wird, die Schule zu verlassen, auf der er sein lange ersehntes Abitur erlangen wollte.
Zu paradox erscheinen hier die deutschen Gesetze, die den ehrgeizigen Yehya auf seinem „geraden“ Weg immer wieder ausbremsen. Studium? – Verboten! Führerschein? – Verboten! Arbeit suchen? – Verboten! Selbst die Stadt verlassen darf er nicht, um möglicherweise an einem anderen Ort ohne sein gewohntes Umfeld ein neues Leben aufzubauen.

All dies sind Infos, die mir bisher in der Art und Weise nicht klar gewesen sind.
Zwar bin ich noch immer schockiert bzgl. seiner kriminellen Karriere, insbesondere über die Brutalität, die er in jungen Jahren an den Tag gelegt hat – immerhin war er mit 15 Jahren der „Boss der Sonnenallee“, vor dem selbst die älteren einen Heidenrespekt hatten!
Aber die Hoffnungslosigkeit, der ständige Kampf gegen Windmühlen, die permanente Perspektivlosigkeit, die paradoxen Gesetze… All dies stimmt mich doch sehr nachdenklich. Man möchte gerne helfen, Yehya und natürlich all den anderen, die in einer ähnlichen Situation stecken, in einer Sackgasse…
Doch ist mir klar, dass dies leider nicht von heute auf morgen geschehen kann.
Eigentlich war hier ein Buch geplant, das den „Aussteiger“ Yehya E. in seinem neuen, nicht mehr von Kriminalität geprägten Leben aufzeigt. Eines, das verdeutlicht, dass es auch anders kommen kann. Leider wurde Yehya jedoch am Ende doch wieder Opfer, Opfer seiner selbst und auch Opfer des Systems. 
Bleibt ihm zu wünschen, nach seiner nun noch 6jährigen Haftstrafe doch noch einen andreren Weg einschlagen zu können und diesem dann treu zu bleiben! 

Ich möchte Christian Stahl danken für ein unglaublich interessantes Buch, das dem Leser auch mal „die andere Seite“ des jungen Täters Yehya aufzeigt, ihn dabei auch zu Wort kommen lässt und damit vielleicht den einen oder anderen Schalter umlegen kann.

Sehr gerne möchte ich diesem Buch eine absolute Leseempfehlung aussprechen!