Rezension

EIne aufwühlende Familiengeschichte

Roter Herbst in Chortitza - Tim Tichatzki

Roter Herbst in Chortitza
von Tim Tichatzki

Bewertet mit 5 Sternen

Mit dieser Familiengeschichte, die sie von 1919 bis in die 1970er Jahre erstreckt ist Tim Tichatzki ein aufwühlendes Debüt gelungen.

Er zeichnet den Weg zweier Jugendfreunde, Willi und Maxim, nach, die sich weit auseinander entwickeln: Willi, ist Mitglied der mennonistischen Glaubensgemeinsachft, die der Gewalt abschwören und Maxim, der im nachrevolutionären Russland, zum gefürchteten Schlächter wird. Sie werden sich Jahrzehnte und viele Tote später in einem Arbeitslager wiederbegegnen.

Meine Meinung:

Obwohl als „Historischer Roman“ deklariert, steht gleich auf dem Cover „nach einer wahren Geschichte“. So weiß der Leser gleich, woran er ist. Worauf vermutlich die wenigsten gefasst sind, ist die Brutalität mit der das ehemalige Zarenreich in einen modernen (?) Staat umgewandelt werden soll. Zuerst Lenin, dann Stalin – die beiden wollen aus dem rückständigen Bauernstaat eine floriernde Industrienation machen, koste es was es wolle. In diesem Fall: Millionen von Menschenleben. Bauern, die zwangsweise in Kolchosen umgesiedelt werden und dort unter unmenschlichen Bedingungen und unfähigen, aber brutalen Aufsehern Getreide „erzeugen“ sollen. Familien werden auseinander gerissen, echte oder vemeintliche Regimegegner verhaftet, verschleppt und ermordet.

In diesen geschichtlichen Kontext spielt sich das Leben der Mennoniten der Ukraine, die lange als Kornkammer Russlands bezeichnet wurde, ab. Die Menschen sind willkürlichen Repressalien und Gewaltorgien ausgesetzt, die Ausübung der Religion wird wie überall in der Sowjetunion verboten.

Kaum keimt ein wenig Hoffnung auf, wie zum Bespiel der Einmarsch der Deutschen in Russland, wird diese sofort wieder zunichte gemacht. Zwar wird die Familie Bergen Richtung Westen bis Thüringen, evakuiert, das dann nach dem Zweiten Weltkrieg als russiche Zone nach der Teilung Deutschlands unter sowjetischen Einfluss steht. Dann gerät die Familie zwischen die Mühlsteine der Politik und wird als „Deutsche“ in ein Arbeitslager nach Sibirien verfrachtet. Erst in den 1970er gelingt es den Mitgliedern der Familie Bergen, die auch die Familie des Autors ist, die Ausreise nach Deutschland.

Ohne jegliches Pathos blickt Tim Tichatzki auf eine der dunkelsten und blutigen Jahrzehnte der Geschichte zurück. Mit bewegenden Worten und ohne Effekthascherei wird das Grauen, das Stalins Schergen verübt haben, dargstellt. Als historisch interessierte Leserin sind mir die Gräueltaten des Sowjetregimes in großen Zügen bekannt. In der detaillierten Darstellung habe ich sie jedoch noch nicht betrachtet. Lenin, Stalin, Blochin, Jeschow oder Beria sind für mich keine Unbekannten. Auch Fünf-Jahres-Pläne, die Säuberungen im „Großen Terror“ und die Millionen (Hunger)Toten durch völlige Fehlplanung und Verrohung der Machthaber sind mir geläufig.

Auf Grund der riesigen Zahl an Opfern ist es schwer, sich dem Einzelnen zu nähern. Dies gelingt mit diesem Roman in eindrucksvoller Weise. Die Personen sind authentisch dargestellt. Hin und wieder habe ich das Gefühl gehabt, den einen oder anderen „beuteln“ zu müssen, weil mir die friedvolle an Naivität grenzende Haltung der Gemeindemitglieder ein wenig zugesetzt hat. Doch dies ist natürlich dem Wissen von heute geschuldet. In der aktuellen Situation und in ihrem beinahe unerschütterlichen Glauben an das Gute im Menschen, konnten die Mitglieder dieser mennonitsche Gemeinde nicht anders handeln.

Fazit:

Ein Buch, das eine noch viel zuwenig aufgearbeitete dunkle Phase der europäischen Geschichte behandelt. Allerdings ist das Buch nichts für zartbesaitete Gemüter. Gerne gebe ich 5 Sterne und eine Leseempfehlung.