Rezension

Eine Ehe aus der zweiten Perspektive

Gegenspiel
von Stephan Thome

Bewertet mit 5 Sternen

Zu Beginn der Handlung sind Maria Antonia Pereira und ihr Ehemann, dessen Namen sie nicht trägt, ein Ehepaar in den besten Jahren und an einem Wendepunkt in ihrer Beziehung angelangt. Die einzige Tochter hat gerade zum Studium das Elternhaus verlassen. Philosopieprofessor Hartmut hat sich vergeblich um Professuren und andere Stellen beworben, um seiner Frau zuliebe die westfälische Provinz verlassen zu können. Falls Hartmut seine derzeitige Stelle aufgeben würde, müsste das Paar seine Ansprüche zurückschrauben und Maria müsste zukünftig den Lebensunterhalt verdienen. Maria studierte in den 70ern in Berlin und entkam so ihrem katholischen Elternhaus und der Salazar-Diktatur in Portugal. Ihr Studium in einer fremden Sprache musste sie sich sehr viel härter erkämpfen als ihre deutschen Altersgenossen und war nie wirklich sicher, ob ihre Leistungen den Ansprüchen genügen. Ihre Altersgenossen in jener Zeit erklärten allein das Lästern über ihr Elternhaus bereits zur politischen Haltung. Berlin war Marias Lebenstraum; in der Gegenwart wird die Stadt erneut ihr Fluchtpunkt. Nach Jahren als Hausfrau und Mutter arbeitet Maria nun an einer kleinen Berliner Bühne und lebt mit Hartmut eine Fernbeziehung. Leiter des Theaters ist ihr Ex-Freund Falk. Maria und Helmut haben die Wahl zwischen zwei Karrieren an zwei Wohnorten oder aber dem Ende ihrer Beziehung.

Rückblenden bieten Einblick in Marias Jugendjahre in Portugal, die Hausbesetzer-Szene der 70er und Marias erste Beziehung zu Falk, der damals Bewunderung suchte, aber keine Partnerschaft. Mit Hartmut lebt Maria anschließend eine klassische Versorgungsehe, in der eine Ehefrau mit eigener Muttersprache höchstens stundenweise als VHS-Dozentin vorstellbar ist. Als Marias Tochter in den 80ern zur Welt kommt, waren Vereinbarkeit von Beruf und Familie noch weitgehend feministische Utopien. Nach der Geburt magert Maria stark ab und schafft kaum noch, das Baby zu versorgen. Hartmut erkennt zunächst nicht, dass seine Frau an postpartaler Depression erkrankt ist. Ohne eigenes Familiennetzwerk in Deutschland und frisch in eine neue Stadt gezogen, gehört Maria zur Hauptrisikogruppe für eine Wochenbettdepression. Hilfe kommt von Hartmuts Schwester, die bereits Kinder hat, und der jungen Familie entschlossen unter die Arme greift. Ängste, ob ihre Tochter Philippa durch die Vernachlässigung geschädigt wurde, lassen Maria fortan nicht mehr los.

Die Handlung umfasst Ereignisse aus rund 30 Jahren auf verschiedenen Zeitebenen und ist zum großen Teil in Dialogen in Szene gesetzt. Besonders Maria schlägt dem Leser so die Widersprüche bundesrepublikanischer Wirklichkeit gnadenlos direkt um die Ohren. Als Einwanderin beobachtet sie den ihr noch immer fremden Planeten Deutschland durch eine besonders scharf gestellte Linse. Die aktuelle Krise des Paars, charakteristisch für die in den 50ern geborene Generation, ist die Summe aus Erschöpfung eines langen Berufslebens, aus nicht Ausgesprochenem und der Sorge um alternde Eltern. Die angespannte Situation wird noch befeuert durch jugendlich-vorschnelle Urteile der Tochter, die bisher wenig über das Leben ihrer Mutter weiß.

„Gegenspiel“ zeichnet äußerst nüchtern Brüche zwischen Schein und Wirklichkeit bundesdeutschen Alltags auf. Die Figur der Maria und ihr kritischer Blick haben mich dabei besonders berührt.