Rezension

Eine Münchhausen-Geschichte des 20. Jahrhunderts

Fast hell
von Alexander Osang

Bewertet mit 5 Sternen

Alexander Osang und Uwe, dessen Geschichte er ursprünglich für ein SPIEGEL-Sonderheft schreiben wollte, begegneten sich in New York auf der Feier einer Ost-Deutschen, die seit 30 Jahren in der Stadt lebt und dort verheiratet ist. New York scheint ein Dorf zu sein, in dem am Ende jeder jemanden findet, der aus seiner Gegend stammt. Nach der deutschen Wiedervereinigung wurde New York auch zu Osangs Sehnsuchtsort und Fluchtpunkt. Die beiden in den 60er geborenen Männer verbindet, dass sie sich als Ostdeutsche im wiedervereinigten Deutschland wie Staatenlose fühlten und möglichst weit weg wollten. New York ist ihr gemeinsamer Fluchtpunkt. Der Autor schreibt aus den USA als Kunstfigur Kolumnen für deutsche Zeitungen. Über sein Leben könnten Zeitungsleser etwas erfahren, umgekehrt weiß Osang noch kaum etwas über Uwe. Der Mann ist homosexuell, kennt Menschen in aller Welt, wirkt agil wie ein mehrsprachiges Chamäleon und scheint immer genau mit dem zufrieden sein, was das Leben ihm gerade bietet. Uwe scheint auch Immobilien in aller Welt zu besitzen – welche Verbindung wohl zwischen ihm und diesen Orten besteht? Der Autor muss sich in den Gesprächen mit dem Biografierten eingestehen, dass Uwe bessere Geschichten erzählt, als ein Berufsjournalist je recherchieren könnte.

Als Geburtstagsgeschenk für Uwes Mutter unternehmen die drei Ostdeutschen von Helsinki aus  eine Reise nach St. Petersburg, auf der Suche nach den „Weißen Nächten“. Für keinen von ihnen gestaltet sich die Reise unkompliziert. Osang arbeitet inzwischen in Israel; Uwes Mutter, die „pommersche Bauerntochter“, misstraut dem Journalisten und Uwe, geprägt durch den Kalten Krieg, fürchtet um seinen kostbaren US-Pass. Uwe und seine Mutter erzählen unterschiedliche Geschichten, so dass man sich als Leser schon zu Beginn fragt, wem die Deutungshoheit über Erinnerungen zusteht. Beide Männer wurden als Jugendliche im Sozialistischen Staat „aus Prinzip“ nicht für die Erweiterte Oberschule zugelassen. Sie lebten verschiedene Leben;  jeder interpretiert bis heute unterschiedlich, wie er damals in seinem Staat behandelt wurde. Uwe wuchs in bohèmehaften künstlerisch-bürgerlichen Verhältnissen in Ost-Berlin auf, sein Großvater war Schauspieler, lief im Krieg zur Russischen Armee über und wurde dort als angeblicher Nazi sofort interniert.  Uwe entscheidet sich für eine Ausbildung zum Russisch-Dolmetscher und beginnt zur Wendezeit ein Studium der Sinologie. Bei seiner Rückkehr 1991 findet er sich in einem Niemandsland und erkennt seine Stadt nicht wieder. Leben und Arbeiten in Hongkong hat Uwe annehmen lassen, dass Grenzen und Konventionen gefallen sind und nun jeder sagen und schreiben kann, was er will. 1997 bewirbt er sich in den USA um eine Greencard. Osang schreibt inzwischen über sein zusammenbrechendes Land und rätselt, ob er lebenslang Ostdeutscher bleiben wird.

Alexander Osang erzählt eine schier unglaubliche Münchhausen-Geschichte des 20. Jahrhunderts.  Uwes Geschichte und die des Autors überlagern sich dabei, scheinen zu verschmelzen. Sie werden zu Geschichten ihrer Väter, ihres Staates und dessen Bespitzelung seiner Bürger. Dass der Biograf seine Figur am Ende noch immer kaum kennt, scheint nur folgerichtig. Uwe hat schon immer erzählt, was von ihm erwartet wird, aber nicht, was er denkt. Eine Geschichte über das Überleben in einer Diktatur, die schwer zu glauben ist – darum musste sie genau jetzt erzählt werden.