Rezension

... Erzählfäden, unerschöpflich ...

Fischers Frau -

Fischers Frau
von Karin Kalisa

Bewertet mit 5 Sternen

Wie entscheidet man sich dazu, etwas stattfinden zu lassen, wenn man so lange ein Leben gelebt hat, das einfach stattfindet?

Im Jahr 1828 brachte ein dreijähriges Fangverbot auf Grund von Überfischung die Fischer an der südlichen Ostsee in existenzielle Bedrängnis. So verlegten sie sich gezwungenermaßen auf das Weben von Teppichen, die bald als sogenannte „Perser von der Ostsee“ große Berühmtheit erlangten. Ein solches besonderes Exemplar aus alter Zeit landet eines Tages auf dem Schreibtisch der Kuratorin Mia Sund, und damit beginnt ihre Geschichte ...

Es ist ja ein bisschen Mode geworden, dass man gewissen ausführlichen Romanen wie bei einem Bühnenstück ein Personenregister voranstellt; wenn man sich in der Menge der Personen verrannt hat, schaut man einfach vorne nach. Zu Karin Kalisa würde so eine Maßnahme aber nicht passen. Stattdessen findet man vorne das Fragment eines mysteriösen, schreibmaschinengetippten Briefes. Sollte man unterwegs in diesem Buch irgendwo verlorengehen, muss man nur diesen Brief anschauen, und der bringt einen wieder zurück auf Kurs. Es funktioniert! Für Euch ausprobiert.

Es scheint nicht Karin Kalisas Naturell zu entsprechen, vergangenes Leid ihrer Protagonisten allzu lange zu zelebrieren, und vielleicht ist das auch nicht nötig. Das mag ich so an ihr, dass sie trotz aller Problematik immer vorwärtsgerichtet schreibt. Über Mias traumatische Kindheitserfahrungen, die irgendwie mit ihrem Vater zusammenhängen, erfahren wir jedenfalls nur wenig. Nur soviel: dass es nötig war, einen radikalen Schnitt zu machen und sich von diesem Vater zu lösen. Das hat Mia bereits geschafft. Sie lebt ein stilles, bescheidenes Leben als Faserarchäologin, die alte Textilien auf ihre Echtheit überprüft, immer darauf bedacht, nicht aus ihrem unauffälligen Mittelmaß herauszutreten. Da bringt die Ankunft des rätselhaften alten Fischerteppichs ihr kleines sicheres Weltgebäude ins Wanken. Getriggert von einer Bemerkung eines Mitarbeiters über das gute Stück, bricht die Vergangenheit über sie herein und zwingt sie, die Flucht nach vorne zu wagen, indem sie sich in die Arbeit an ihrem Forschungsobjekt stürzt und der Geschichte der rätselhaften Urheberin des Teppichs hinterher reist.

Mia hat ihre Vergangenheit nicht aufgearbeitet, aber sich Überlebenstechniken angeeignet. Jeder Schritt in unbekanntes Terrain fordert ihr einen gigantischen Mut ab. Dieses Zweifeln, dieses Zurückrudern-wollen, wenn man so einen mutigen Schritt vorwärts gewagt hat, beschreibt die Autorin authentisch und hochsensibel. Mia hat ein ganz feines Gespür für zwischenmenschliche Befindlichkeiten; deswegen ist sie auch so leicht zu verunsichern, und man weiß nicht wirklich, ob das, was sie spürt, immer real ist oder eher ihrer übersteigerten Einbildungskraft entspringt. Kein Wunder, dass ihre Forschungsarbeit über die geheimnisvolle Teppichknüpferin Nina Silke Strad schließlich eher zu einem Roman gerät als zu einer wissenschaftlichen Abhandlung. Dieser Roman im Roman, der die vielen Stationen einer ungewöhnlichen Europareise beschreibt, hat durchaus Tempo und Kontur. Ein scheinbar unerschöpflicher Vorrat an Erzählfäden entspinnt sich farbgewaltig und poetisch vor dem inneren Auge. Mia fängt an, mit ihrer Romanheldin einen Dialog zu führen, und irgendwann weiß man kaum mehr, wer wer ist, so sehr verschmelzen die beiden ineinander ..

Karin Kalisas Sprache, mit der sie die komplizierten Gedankengänge Mias sichtbar macht, erscheint manchmal ein bisschen abgedreht. Aber doch passt es haargenau. Auf diese Weise macht sie das Unerklärliche fühlbar, gibt sie der traumatischen Stummheit eine Sprache. Manchmal muss man sehr aufmerksam lesen, um durch die Verschachtelungen der Sprache hindurchzusehen, aber dann übt es einen Sog aus, der einen nicht mehr loslässt. Karin Kalisa schreibt wunderschön und gleichzeitig wieder nüchtern, da wo es gefährlich übersinnlich werden könnte. Zudem kommentiert sie immer wieder kleine Handlungsdetails mit einem herrlich trockenen Humor. Liebevoll zelebriert sie einfache Alltagsdinge und charakterisiert damit treffend Mias neurotische Macken. So entfaltet sich die Handlung durchaus langsam. Und auch das passt. Und, ja, es gibt sie, die übertriebenen Stellen, wo der eine oder andere mit den Augen rollen mag. Aber an den meisten Stellen sitzt dieser Stil, wie ich fand, sehr gut, denn er spiegelt anschaulich die komplizierte Denkweise der Protagonistin.

Ich feiere dieses Buch als ganz große Erzählkunst.

Kommentare

Emswashed kommentierte am 09. Juli 2022 um 08:58

... und Du bist ganz bei Mia und ihrem komplizierten Leben geblieben. Sehr einfühlsam und aussagekräftig! Man könnte meinen, wir hätten zwei unterschiedliche Bücher gelesen, aber das ist genau der Reiz DIESES Buches. Ich bin beeindruckt.

Arbutus kommentierte am 10. Juli 2022 um 20:19

Ja, und das ist tatsächlich mal ein Buch, bei dem es mich reizt, es irgendwann nochmal zu lesen.