Rezension

Es ist nie zu spät...

Noch alle Zeit - Alexander Häusser

Noch alle Zeit
von Alexander Häusser

Bewertet mit 4.5 Sternen

Trotz der geringen Seitenzahl ist dies für mich ein langsamer Roman, den ich nur passagenweise las, weil so viel zwischen den Zeilen steckt.

Nach dem Tod seiner Mutter entdeckt Edvard ein Sparbuch auf seinen Namen. Ein kleines Vermögen hat sich angesammelt. Warum hat seine Mutter ihm das Sparbuch verschwiegen? Steckt vielleicht sein vor 50 Jahren verschwundener Vater dahinter? Jetzt will Edvard die Wahrheit wissen und eine erste Spur führt ihn zu einer Bank in Oslo. Auf der Überfahrt lernt er die junge Berliner Journalistin Alva kennen. Auch sie ist auf der Suche – nach sich selbst. Eine Reise durch Fjorde, Gebirge, einsame Hochebenen und magische Orte beginnt, die beide für immer verändert. 

Zwei Charaktere bestimmen das Geschehen in diesem Roman, zwei Charaktere, die unabhängig von ihrem großen Altersunterschied und in verschiedenen Lebensphasen beide noch nicht zu sich selbst gefunden haben.

Der eine jahrzehntelang gefangen im immergleichen engen Dorfleben und in einer Rolle, in die er zwangsläufig hineingewachsen ist. Edvarrd musste immer da sein für seine Mutter, die ihn seit seinem 10. Lebensjahr alleine erzog. Nun, nach dem Tod der Mutter, ist er aus der Rolle entlassen und weiß nicht wohin mit sich. Einfach bei seiner alten Liebe weiterzumachen, die vor kurzem ins Dorf zurückgekehrt ist, kommt ihm irgendwie auch nicht richtig vor. Das gefundene Sparbuch gibt jedoch den Anstoß, seinem Leben eine neue Richtung zu geben, wohin auch immer. Jedenfalls weg, mit aller Macht.

 

"Er zog den Kopf ein, als er sein Zimmer betrat, das immer sein Kinderzimmer geblieben war, das nie für ihn gewachsen war, das ihn ein Leben lang klein gehalten hatte…" (S. 15)

 

Die andere hadert mit sich seit sie denken kann. Ständig hat Alva das Gefühl 'falsch' zu sein. Nicht den Erwartungen entsprechen aber auch nicht aus ihrer Haut zu können. Sie versucht mit Musik alles zu überspielen, es weniger 'wirklich' und bedeutsam werden zu lassen, lebt dadurch aber am Leben vorbei und auch an der Chance zu erkennen, wer sie wirklich ist. Alva lässt nach ihrer großen und verlorenen Liebe niemanden mehr wirklich an sich heran, die Liebe ihrer Tochter macht ihr Angst. Auch sie macht sich auf den Weg, um sich womöglich selbst zu finden...                         

Der Roman hat einen ganz eigenartigen Sog, düster und melancholisch, doch die beiden Charaktere versuchen sich an die Oberfläche der dunklen Tiefen zu strampeln. Alva macht es niemandem leicht, sie zu mögen, nicht Edvard, nicht dem Leser. Aber die Verletztlichkeit und tiefe Verzweiflung, die da immer wieder aufblitzen, lassen einen auch zögern, sich einfach abzuwenden. Und Edvard spurtet mit seinen 60 Jahren ziemlich blauäugig und überhastet los nach Norwegen auf der Suche nach seinem nun über 90jährigen Vater, der im Grunde überall und nirgends sein könnte - und wer sollte ihn wohl kennen, den er zufällig fragen könnte? Dass Edvard noch dazu eine langjährige und tiefe Verbundenheit zum verräterischen Freund Alkohol pflegt, macht die Sache nicht unbedingt einfacher.      

Die Begegnungen der beiden so unterschiedlichen Charaktere sind schräg und alles andere als geschmeidig. Jede_r der beiden fühlt sich im Verlauf verantwortlich für den jeweils anderen, und doch bleibt jede_r der Idee treu, die sie_ihn auf die Reise geschickt hat. Das ist kein vor Harmonie triefender Roman, der Umgang von Edvard und Alva miteinander ist oft rau und von Egoismus geprägt, und doch erkennen sie im jeweils anderen etwas, das sie innehalten und sich ihm zuwenden lässt. 

 

"Er öffnete die Augen, sie strich ihm übers Haar und begriff, dass man den anderen auch trösten kann, wenn einem selbst genau so kalt ist." (S. 214)

 

Trotz der geringen Seitenzahl war dies für mich ein langsamer Roman, den ich nur passagenweise gelesen habe, einfach weil so viel zwischen den Zeilen steckt, so viel Gefühl transportiert wird. Die Verzweiflung der beiden, die Notgemeinschaft der Einsamkeiten, die alten Verletzungen, die Narben hinterlassen haben. Und doch - bei allen melancholischen Rückblicken zeigen letztlich die Vorzeichen auf den Blick nach vorne - eine Entwicklung zu sich selbst...                  

Ich mag Romane, die in oftmals poetischer Sprache auf wenigen Seiten so viel erzählen. Die Stimmung hier ist stets in Moll gehalten und doch zuletzt auf die Zukunft ausgerichtet. Das Verhaften in der Vergangenheit hat ein Ende - es spielt eine Rolle, aber das Leben an sich rückt nun in den Vordergrund, und das offene Ende des Romans passt in meinen Augen hervorragend zu der Erzählung.

Zwei unterschiedliche Charaktere, zwei unterschiedliche Generationen - eine Suche. Der Ältere trägt viele Aspekte der Lebensgeschiche des Autors in sich, wie er verriet, was die Erzählung für mich noch persönlicher werden lässt. Und bei aller Melancholie haftet dem Roman doch auch etwas Tröstliches an: nämlich dass es nie zu spät ist, sich auf die Suche zu begeben. Dem Leben entgegen...

 

© Parden