Rezension

Familiendrama mit archaischer Wucht

Für eine kurze Zeit waren wir glücklich - William Kent Krueger

Für eine kurze Zeit waren wir glücklich
von William Kent Krueger

Bewertet mit 4.5 Sternen

Natürlich war es den Kindern aus New Bremen/Minnesota verboten, auf den Eisenbahnschienen zu spielen. Für einen Dreizehnjährigen führten damals die Bahngleise bis zum Horizont. Erst nach dem Tod des kleinen Bobby wird den älteren Kindern bewusst, dass Bobby anders ist als andere Kinder und sie besser hätten auf ihn aufpassen müssen. Erzählt wird die Geschichte einer Kindheit im Jahr 1961 aus der Distanz von 40 Jahren von Frank Drum, dem Sohn des methodistischen Pfarrers. Die ungewöhnliche Reihe von Schicksalsschlägen in diesem Sommer beschäftigt Frank bis heute und sie hängt vom Beginn der Handlung an wie eine drohende Wolke über dem kleinen Ort.

Als Pfarrerskinder sind Frank und sein Bruder Jake gewöhnt, dass zu ungewöhnlichen Zeiten das Telefon klingelt und der Vater im Notfall sofort aufbricht, um einem Gemeindemitglied zu Hilfe zu kommen. Wenn die Jungen von dem Anruf geweckt werden, beginnt jedes Mal das Gekabbel, wer den Vater im Auto  begleiten darf, Frank möchte am liebsten allein mit seinem Vater unterwegs sein, ohne Jake. Als Vater Nathan „wegen Gus“ angerufen wird, faltet das für Frank die lebenslange Verantwortung seines Vaters für Gus auf, mit dem er gemeinsam im Zweiten Weltkrieg gedient hat. Als Nathan aus dem Krieg zurückkehrte, gab er seinen Plan einer glänzenden Anwaltskarriere auf und absolvierte stattdessen das Priesterseminar. Die Drums ziehen nach New Bremen, damit die begabte ältere Tochter Ariel Musikunterricht erhalten und später die Juilliard School besuchen kann. Im Tausch gegen den Musikunterricht tippt Ariel die Lebenserinnerungen ihres kriegsblinden Lehrers. Kriege sind in Kent Krügers Roman allgegenwärtig - Erster und Zweiter Weltkrieg und der Koreakrieg haben die Väter-Generation geprägt, aber auch der 100 Jahre zurück liegende Krieg zwischen Sioux und Weißen hier in der Ebene ist im Verhältnis zwischen Weißen und Ureinwohnern noch spürbar. Wer nicht kriegstraumatisiert ist, hat unter körperlichen und seelischen Behinderungen und Gewalt in all ihren Schattierungen zu leiden. Das Leben im Pfarrhaus muss alles andere idyllisch gewesen sein; das Leiden seiner Mutter wird vermutlich erst dem erwachsenen Frank deutlich geworden sein.

Als Frank und Jake, mal wieder verbotenerweise am Bahndamm unterwegs, einen unbekannten Toten finden, konfrontiert das die Einwohner mit ihren Urängsten. Die Kinder waren stets vor Fremden mit bösen Absichten gewarnt worden, aber das Klischee des großen Unbekannten lässt sich je weniger halten, je weiter der schicksalsträchtige Sommer fortschreitet. Gut und Böse sind im wirklichen Leben eben nicht so einfach zu unterscheiden wie in Geschichten. Diese Erkenntnis markiert Franks Erwachsenwerden im letzten Sommer, in dem die Familie noch glücklich sein kann. Die Jungen machen sich aus dem Dorftratsch und Fetzen belauschter Gespräche ihr eigenes Bild. Besonders für Frank scheint die Last an Heimlichkeiten und Schuldgefühlen zu groß zu sein. Die Reihe der Schicksalsschläge trifft den Ort und die Familie Drum mit archaischer Wucht, so dass man als Leser am Ende dringend eine Atempause benötigt.

William Kent Krueger spinnt ein dichtes Netz an Beziehungen und schafft mit Frank einen glaubwürdigen Erzähler, indem er den Dreizehnjährigen belauschen lässt, was die Erwachsenen vor Kinderohren verbergen. Figuren wie Gus und Sheriff Doyle finde ich hinreißend, weil sie Ecken und Kanten haben dürfen, aber auch weil sie für die Jungen wichtige Identifikationsfiguren sind. Besonders anrührend fand ich das Verhältnis zwischen älterem und jüngerem Bruder. Die Atmosphäre in den 60ern in der amerikanischen Provinz trifft Kent Krueger meisterhaft. Er schafft eine Stimmung wie in „Stand by Me“ (der Film spielt 1959), erinnert mich jedoch auch an „Aus der Mitte entspringt ein Fluss“ (spielt in den 20ern).