Rezension

Für mich keine Liebe auf den ersten Blick - aber dann...

Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise
von Jean-Paul Dubois

Bewertet mit 4.5 Sternen

Katapultierte sich bei mir im Verlauf von 3 auf 5 Sterne - eine eigentümliche Erzählung, distanziert und doch zutiefst berührend...

Warum sitzt ein unauffälliger Mensch wie Paul Hansen im baufälligen Gefängnis von Montréal? Der in Frankreich aufgewachsene Sohn eines dänischen Pastors und einer Kinobesitzerin hatte schon einiges hinter sich, bevor er seine Berufung als Hausmeister in einer exklusiven Wohnanlage in Kanada fand. Ein Vierteljahrhundert lang lief alles rund – die Heizungsanlage ebenso wie die Kommunikation, bis Paul eines Tages die Sicherung durchbrennt. Nun erträgt er mit stoischer Ruhe seinen Zellengenossen Patrick, einen Hells-Angels-Biker, der sich jedoch von einer Maus ins Bockshorn jagen lässt. Paul hat viel Zeit zum Nachdenken – Zeit für tragikomische Lebenslektionen und unerwartetes Glück. 

 

Puh, hier sitze ich mal wieder und grüble, wie eine passende Rezension zu diesem Roman aussehen könnte. Denn es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, das war Liebe auf den ersten Blick. Ich hatte Schwierigkeiten, mich in den eigenwilligen, nüchternen Schreibstil einzufinden, der gerne verschachtelt und metaphernreich daher kommt. Noch dazu fand ich gerade am Anfang die zahllosen Rückblenden in die Vergangenheit sehr ausschweifend, ebenso wie etliche essayhaft anmutende Abhandlungen über scheinbar willkürliche Themen wie Motoren, die katholische Kirche, die Praktiken von Versicherungen oder auch Kolibris - und mir war nicht klar, wozu diese Exkurse nötig waren. Aber dann...

 

Etwa ab der Hälfte des Romans ließt mich dieser plötzlich nicht mehr los. Vielleicht weil ich mich an den eigentümlichen Schreibstil gewöhnt hatte, vielleicht, weil hier öfter Humor und bitterböser Zynismus aufblitzten, wenn auch gleich gefolgt von dem nächsten Lebensdrama. Trotz aller Distanziertheit, die der Roman seinen Figuren auferlegt, wurden hier nun ausreichend Emotionen transportiert - melancholisch zumeist, aber ohne in Kitsch oder triefendes Selbstmitleid abzugleiten. Mittlerweile mochte ich auch die häufigen Wechsel der Zeitebenen, sie kamen für mich oft genau zur rechten Zeit. 

 

Tatsächlich haben mich die die Erzählung und der tragische Hauptcharakter im Verlauf wirklich berührt. Jean-Paul Dubois ist das Kunststück gelungen, trotz aller Distanziertheit der Charaktere doch auch die Emotionen klar und spürbar zu transportieren. Die Spannung entsteht vor allem durch die durchgängige Frage, weshalb Paul überhaupt im Gefängnis sitzt. Die Antwort lässt sich erst kurz vor dem Ende erahnen - und passt zur Tragik des Lebens des einfachen, unauffälligen, dienstbaren, selbstlosen, liebenswerten Mannes, der einfach nur seine Aufgaben erfüllen möchte, wie er sie sieht.

 

Und so wie der Autor für viele Situationen eindrucksvolle Bilder und Metaphern findet, symbolisiert auch der mit einem Hells Angels Biker einsitzenden Paul noch eine ganz andere Ebene. Dubois gelingt es, über das kleine Universum des Hausmeisters Paul darzulegen, wie sich die (westliche) Welt heute präsentiert. Die Werte haben sich verschoben, Kosten-Nutzen-Überlegungen zählen weitaus mehr als das einzelne Schicksal, die Excel-Typen und Betriebswirte entscheiden über Dinge, die eigentlich nicht messbar sind. Werte wie Mitmenschlichkeit, Hilfsbereitschaft, Zugewandtheit werden an die Wand gedrückt, die Prämisse Zeit ist Geld steht über allem, für jede Sekunde muss Rechenschaft abgelegt werden. 

 

Für mich ein grandioser Roman, der viele Saiten in mir zum Klingen gebracht hat. Und diese Gleichzeitigkeit von einem im Grunde nüchternen, wenn auch geschliffenen Schreibstil und den so klaren, deutlichen Emotionen, die den Leser in manchen Zeilen geradezu anspringen, fand ich einfach großartig. 

 

Für mich in jedem Fall ein Highlight...                        

 

© Parden