Rezension

Gesellschaftskritik zwischen herzzerreißend und befremdlich

Das Seidenraupenzimmer - Sayaka Murata

Das Seidenraupenzimmer
von Sayaka Murata

Bewertet mit 4 Sternen

Natsuki freut sich immer besonders auf das jährliche Familientreffen zu Obon, denn hier trifft sie ihren Cousin Yu. Die beiden Jugendlichen haben es nicht leicht mit ihren Eltern und spüren eine instinktive Zusammengehörigkeit. Bei den Treffen im ländlich gelegenen Haus ihrer Großeltern, in dem früher einmal Seidenraupen gezüchtet wurden, verbringt Natsuki die glücklichsten Stunden ihres Lebens. Doch durch einen Fehler zieht sie zu allem Unglück auch noch den Zorn ihrer Familie auf sich.

Die Erzählung hat mich Anfangs so sehr berührt! Nüchtern schildert Ich-Erzählerin Natsuki ihr Leben, die Schikanen ihrer Mutter und ihrer Schwester und die Bedrängnisse, denen sie in der Schule ausgesetzt ist. Dabei ist sie so nachgiebig, so bemüht alles richtig zu machen und so lieb, dass es mich ganz fertig gemacht hat. Man mag sie schütteln, ihr zurufen „Wehr' dich!!“ aber sich zu wehren, das ist für ein Kind in der japanischen Gesellschaft einfach nicht drin. Es ist absolut  herzzerreißend, wie Natsuki versucht sich selbst zu retten.

Besonders erdrückend fand ich die Einmischung der Familie in das Privatleben, die auch für Erwachsene kein Ende kennt. Für mich fühlte es sich komplett übergriffig an, schien hier aber allgemein akzeptiert zu sein. Wer mit den gesellschaftlichen Regeln nicht zurecht kommt, muss sich zwangsläufig als Außenseiter und abnormal fühlen. Diesen Umstand hat Murata anhand ihrer Hauptfiguren sehr anschaulich illustriert.

Bis zu einem gewissen Punkt dachte ich „Ok, das wird ein Jahreshighlight!“ doch dann nahm die Geschichte etwas unerwartet eine recht surreale Wendung. Ich wünschte, ich könnte etwas anderes sagen, aber irgendwann wurde es mir etwas zu seltsam. Aber vielleicht bin ich schon zu sehr Teil der  „Firma“ um Natsukis Weg vollkommen zu verstehen. Schließlich sind Freiheit und Geborgenheit lange Zeit Fremdwörter für unsere Hauptfigur. Wie sie beides letztlich erlangt ist befremdlich aber tatsächlich nicht ganz unverständlich.

Wie auch schon in der Ladenhüterin geht es um gesellschaftliche Zwänge und den Versuch sich daraus zu befreien. Wer Han Kang und die befremdlichen Begebenheiten in ihren Romanen mag, der wird auch mit dem Seidenraupenzimmer wunderbar zurecht kommen. Mir persönlich war nach dem berührenden Beginn der Bruch zum – wie soll ich es ausdrücken? – Absurden etwas zu hart. Allerdings entwirft Murata hier ein Szenario, das man so leicht nicht vergisst, dass einen nachdenken lässt und sich absolut großartig für Diskussionen in Leserunden und Buchklubs eignen dürfte.

Kommentare

wandagreen kommentierte am 15. Juni 2020 um 21:13

Sehr schöne Rezension! Man versteht wie sehr das Buch eigentlich eine andere Richtung gebraucht hätte, sie aber eben nicht bekommen konnte und wie die Leserin darunter leidet.
 

wandagreen kommentierte am 15. Juni 2020 um 21:14

Doppel. Ich könnte jetzt noch was anderes sagen. Ich lese oft deine Rezensionen.