Rezension

Grandioses Debüt...

Vatermal -

Vatermal
von Necati Öziri

Bewertet mit 5 Sternen

Grandioses Debüt, das es bis auf die Shortlist des diesjährigen Buchpreises geschafft hat - Fremdsein, Identitätssuche, Familiengeschichte...

Arda weiß nicht, wie viel Zeit ihm noch bleibt. Er liegt mit Organversagen im Krankenhaus seiner Heimatstadt im Ruhrgebiet;  an seinem Bett sitzen abwechselnd seine Mutter Ümran und seine Schwester Aylin. Seit zehn Jahren haben die beiden kein Wort miteinander gesprochen. Zum Abschied wendet er sich an seinen Vater, den er nie kennengelernt hat. Arda erzählt dem Unbekannten von Geburtstagen im Ausländeramt und vom letzten Sommer auf dem Bahnhofsplatz, bevor alle seine Freunde verschwinden: Bojan wird abgeschoben. Danny wird zu früh Vater. Savaș geht zurück in die Türkei, nachdem er seine Mutter verliert. Aber Arda erzählt auch von Schwester und Mutter: von Aylin, die von zuhause wegrennt. Und von Ümran, die sich ihr Leben ganz sicher anders vorgestellt hat. Necati Öziri schreibt eine Familiengeschichte über einen Sohn, eine Mutter und eine Schwester, deren Leben und Körper gezeichnet sind von sozialen und politischen Umständen. Ein Roman von radikaler Wahrheit, Wut, Kraft, Liebe und Sehnsucht – und das dringlichste Debüt des Jahres. (Verlagsbeschreibung)

 

Ich möchte dir für immer die Möglichkeit nehmen, nicht zu wissen, wer ich war. Du sollst erfahren, wie es deiner Familie in Deutschland ging, wie der letzte Sommer meiner Jugend war, bevor fast alle meine Freunde verschwunden sind. Du sollst wissen, wie es war, als deine alten Freunde mir auf die Schulter klopften und sagten, ich würde irgendwann werden wie du: Held einer gescheiterten Revolution. Ich werde diese Geschichten aufschreiben.

 

Der Student Arda liegt im Krankenhaus, die Lage ist ernst. Wenn die Therapie nicht anschlägt, wird er sterben, niemand weiß, wie lange ihm noch bleibt. In dieser Phase der Ungewissheit denkt Arda nach über sein Leben, seine Geschichte, die Geschichte seiner Familie und seiner Freunde. Und über seinen Vater, den er nie kennengelernt hat, weil dieser vor seiner Geburt zurückging in die Türkei. Arda wächst bei seiner Mutter und seiner älteren Schwester im Ruhrgebiet auf, passlos bis zu seinem 18. Lebensjahr. Arda beschließt, im Krankenhaus einen Brief an seinen Vater zu schreiben, nicht wissend, ob dieser ihn jemals lesen wird, aber notwendig, um mit sich ins Reine zu kommen.

Der Ich-Erzähler Arda beleuchtet viele Aspekte - sein eigenes Aufwachsen im grauen Ruhrgebiet, sein enges Verhältnis zu seiner Schwester, die jedoch, als der Streit mit ihrer Mutter eskalierte, eines Tages einfach ging und nicht wiederkehrte. Die Geschichte seiner Großeltern, seiner Eltern, seiner Freunde. Die Zeit als Jugendlicher, wo sowieso alles unsicher ist, wo vielleicht die Freunde den Halt bieten, den man braucht, Gewalterfahrungen, verstörende Erlebnisse, Vorurteile, Verluste, fehlende Perspektiven. Arda reiht Erinnerungen aneinander - die eigenen ebenso wie die Versatzstücke, die ihm seine Mutter und seine Schwester erzählen, die ihn nun regelmäßig im Krankenhaus besuchen.

 

Aber wenn es eine Sache gibt, die ich (...) begriffen habe, dann, dass wir alle auf dieser Welt nur beschissene Gastarbeiter sind. Und das Einzige, was du tun kannst, ist aufstehen und das Leben suchen, solange du noch kannst. 

 

Die Aneinanderreihung von Erinnerungen wirkt dabei nicht konstruiert oder störend, sondern stimmig, auch wenn es immer wieder Themensprünge gibt und wechselnde Perspektiven. Ein Roman, der deutschtürkische Realitäten abbildet, ohne dass sie das zentrale Thema wären, vermeintlich leicht in der Sprache, dabei meist eher nüchtern und distanziert und trotzdem gefühlvoll und ja, auch berührend, dann wieder urkomisch. 

Eray von Egilmez liest die ungekürzte Hörbuchfassung (6 Stunden und 24 Minuten) dem Schreibstil entsprechend unaufgeregt und lässt dem Erzählfluss den notwendigen Raum. Mich hat die Lesung überzeugt.

Ein Roman über Fremdsein und Identitätssuche, über die Geschichte einer Familie, über Ereignisse und Entscheidungen, die generationenübergreifende Folgen nach sich ziehen, über Sinnsuche und Freundschaft, über Männlichkeit und Rollenerwartungen. Am Ende - ein offenes Ende, alles andere wäre unpassend - dann das Gefühl, dass Arda mit sich selbst im Reinen ist. Komme, was da wolle...

Ob der Roman den diesjährigen Deutschen Buchpreis gewinnt? Vermutlich nicht, er lässt sich zu gefällig lesen, ist wohl nicht überspannt genug. Aber die Herzen der Leser:innen kann er offenbar erobern. Meines auf jeden Fall...

 

© Parden