Rezension

Großartiger, lebenskluger Roman

Visby - Barbara Slawig

Visby
von Barbara Slawig

Bewertet mit 5 Sternen

Adrian ist verschwunden und seine Partnerin Annika muss sich eingestehen, dass er sich bereits ein paar Tage vorher merkwürdig benommen hat. Das Paar, das an der nordfriesischen Küste lebt, hat eine gemeinsame Tochter. Auf den Anruf einer Frau hin, um die er sich in deren Kindheit einmal gekümmert hat, ließ Adrian nun alles stehen und liegen. Annika grübelt, ob Dhanavati, die Anruferin, vielleicht doch Adrians leibliche Tochter sein könnte. Vertrauen hatte doch beiden immer bedeutet, dass man einander nicht bedrängt. Würde Adrian seine leibliche Tochter zugunsten seiner Pflegetochter im Stich lassen? Während seines bewegten Lebens hat Adrian vor zwanzig Jahren in einer Bhagwan-Kommune auf der Insel Gotland gelebt, gemeinsam mit Dhanavatis Mutter Gisela. Politisch war es eine aufregende Zeit; der Vater eines der Kommunarden war Weggenosse Olof Palmes. Gisela hatte sich zwar gewünscht, dass Adrian sich weiter um Dhana kümmern sollte, falls das einmal nötig sein sollte. Doch da sie in Deutschland noch Eltern und einen Bruder hat, bleibt Giselas Wunsch nach ihrem Tod leider nur ein Traum. Adrian hat als Pflegevater keine Ansprüche auf Dhana. Das Mädchen wächst bei Onkel und Tante in Westfalen auf und arbeitet inzwischen in Dänemark als promovierte Mathematikerin über die Verbreitung von Seuchen. Beruflich steht Dhana gerade vor einem Umbruch. Sie realisiert, dass ihre Arbeitsergebnisse für die biologische Kriegsführung einzusetzen sind und dass sich Institutionen für sie als Mitarbeiterin interessieren, deren Ziele Dhana nicht gutheißen kann. So machen sich drei Personen auf die Suche: Annika sucht Adrian, Dhana will endlich wissen, wer ihr leiblicher Vater ist und Jens Nilsson sucht im Auftrag eines deutschen Forschungsinstituts den Kontakt zu Dhana. Jeder von ihnen konstruiert seine persönliche Wahrheit und setzt sich ganz individuell mit den eigenen Fehleinschätzungen und Lebenslügen auseinander. Angelpunkt der drei Suchbewegungen ist Bengt Eglund, einer von Giselas Mitbewohnern in Visby, der inzwischen in seinem Metier ein mächtiger Mann geworden ist. Dass Eglund die Grenze zwischen privaten und geschäftlichen Angelegenheiten anders festlegt als sie selbst, erkennt Dhana erst, nachdem sie sich in eine gefährliche Situation manövriert hat.

In einer Handlung, die mich streckenweise wie ein Wissenschafts-Thriller fesselte, habe ich mich den Figuren in "Visby" außerordentlich nahe gefühlt. Mit Dhana und ihrer Chefin Maria schafft Barbara Slawig mit dem Hintergrund ihrer eigenen wissenschaftlichen Arbeit zum Thema Epidemien sehr glaubwürdige Figuren. Auch Jens wird kaum einen Leser unberührt lassen, wenn er in einem schriftlichen Bericht seine Irrwege in dieser komplizierten Geschichte offenlegt. Ein großartiges, lebenskluges Buch, das die Bedeutung frühkindlicher Bindung und den Konflikt zwischen biologischer und sozialer Elternschaft eindringlicher vermittelt als manch umfangreiches Fachbuch das kann.
 

Kommentare

wandagreen kommentierte am 27. August 2019 um 07:58

Ach je ..