Rezension

Großartiger Nachkriegsroman

Wunderjahre -

Wunderjahre
von Izabelle Jardin

Bewertet mit 5 Sternen

„...Aber es war nun nichts mehr zu ändern. Wahrscheinlich musste Gras über die Sache wachsen. So wie immer Gras über Dinge wachsen musste, an denen es nichts mehr zu drehen gab...“

 

Es sind die Worte ihrer Urgroßmutter Charlotte, die Eva wieder einmal durch den Kopf gehen. Es ist nicht das erste und sicher nicht das letzte Mal in der Geschichte der Familie.

Anfangs stand alles auf Neuanfang. Im Jahre 1949 hatte Constanze ihren Mann für tot erklären lassen. Mit Gordon und Eva war ein letzter Abschiedsbesuch in Berlin geplant. Während Constanze schon in der alten Wohnung war, kamen Gordon und Eva später. Es sollte für Eva ein Schock sein, als sie plötzlich ihrem Vater gegenüber stand. Das neue Leben zerplatzte wie eine Seifenblase. Für Constanze war die Entscheidung klar. Sie gehörte an Clemens` Seite. Und um Clemens zu schonen, wurde ein Lügengebäude aufgebaut, dass fortan ihr Leben prägen sollte.

Die Autorin hat einen fesselnden historischen Roman geschrieben. Sie lässt die Jahre 1949 bis 1961 in ihrer Geschichte am Beispiel von Evas Leben lebendig werden, denn in diesem Band steht Eva im Mittelpunkt.

Der Schriftstil lässt sich angenehm lesen. Er passt sich gekonnt der Situation an. Sehr berührend sind die Momente der ersten Begegnung von Eva mit ihrem Vater. Er ist nicht mehr der Mann, der mit ihr als Kind gespielt hat. Es ist erst seine Stimme, die alte Erinnerungen wach ruft und sie in seine Arme treibt. Sophie, Evas Freundin, stellt fest:

 

„...Wir sind alle nicht mehr so, wie wir vor dem Krieg waren. Aber wir kommen wieder auf die Füße und müssen jetzt vergessen und nur noch nach vorn schauen...“

 

Das Leben im Osten Berlins ist nicht einfach. Trotz eines guten Abiturs wird Eva das Studium verweigert. Die Mutter kümmert sich um eine Lehrstelle in der Charitè. Selbst Charlotte ist der Meinung, dass Eva diese Ausbildung machen soll.

Währenddessen geht es für Charlotte und ihren Sohn Justus im Westen aufwärts. Natürlich hat ihr Leben auch Schattenseiten. Charlotte wird deutlich:

 

„...Dieser Geier! Ärgert sich schwarz, dass nicht die Kirche das Gut geerbt hat, sondern wir Parasiten aus dem Osten...“

 

Der nächste Einschnitt ist Charlottes Tod. Sehr berührend werden Evas Erinnerungen an die Kinderzeit in Ostpreußen wiedergegeben. Und für Eva beginnt nun ein neuer Lebensanschnitt. Sie bleibt im Westen und geht zum Studium nach Braunschweig. Die Eltern gehen zurück nach Berlin. Muss Eva das verstehen? Ihr Cousine sieht dies pragmatisch:

 

„...Die wollen nicht reden. Die wollen nur vergessen...“

 

Als sich Eva einer Gruppe Studenten anschließt, die sich im Segelflug ausbilden lassen, lernt sie den Fluglehrer Wilhelm kennen. Der wird ihr in ihrer schwersten Stunde zur Seite stehen. Auch über seine Vergangenheit erfahre ich einiges.

Es wechseln Zeiten des Wohlstandes und der Zufriedenheit mit Niederlagen und Neuanfang. Immer wieder gibt es Situationen, über die Gras wachsen muss. Vieles bleibt im Dunkeln der Familiengeschichte. Im Heute und Jetzt von Eva gibt es noch keine Antworten. Dafür ist die Zeit nicht reif. Der kalte Krieg überlagert alles. Wilhelm, der etliche Jahre älter ist und als Flieger im Krieg war, fasst das Dilemma seiner Generation so zusammen:

 

„...Es waren zum größten Teil keine Berufssoldaten, die da zigtausend Menschen auf dem Gewissen haben. Es waren Schneider, Beamte, Lehrer, Landwirte, Schuhmacher, Künstler […] Du kannst mir glauben, ich danke Gott jeden verdammten Tag, dass ich wenigstens nicht direkte Schuld auf mich geladen habe. Es muss furchtbar sein für ihr Gewissen, heute so tun zu müssen, als sei nichts gewesen...“

 

Deutlich wird, wie sich die Lebensverhältnisse im Westen bessern. Es beginnen die Jahre des Wohlstands. Unterschwellig aber zeigt sich, in wie vielen noch die alten Denkmuster schlummern. Auch Eva fragt sich, wie die Frauen, die im Krieg und danach das Leben in die eigene Hand nehmen mussten, sich nun erneut widerspruchslos den Männern unterordnen. Das dies bei ihr anders läuft, hat sie nicht zuletzt ihrer Schwiegermutter zu verdanken.

Das Buch hat mir sehr gut gefallen. Es ist ein vielschichtiger Roman und gleichzeitig ein großartiges Zeitgemälde, das Platz ließ für all die Verletzungen der Vergangenheit, mit denen nicht nur die Kriegsgeneration leben musste.