Rezension

Großartiges Monumentalwerk

Das Volk der Bäume - Hanya Yanagihara

Das Volk der Bäume
von Hanya Yanagihara

Bewertet mit 5 Sternen

Nachdem ich „ein wenig Leben“ von Hanja Yanagihara gelesen hatte, war ich sehr gespannt auf das zuletzt veröffentlichte Werk der Autorin. Es ist erneut ein Monumentalwerk, dessen Sprachduktus mal wuchtig, mal leichtfüßig immer genau auf den Punkt ist. Yanagihara versteht es, Unerhörtes so unprätentiös zu beschreiben, dass mir als Leser immer wieder der Atem stockte. Der Plot dreht sich um einen fiktiven Wissenschaftler, in dem sich Genius und moralische Verderbtheit miteinander vereinen – eine sehr gefährliche Kombination. Norton Perina lebt für die Wissenschaft und vor allem für das Abenteuer der Entdeckung, für die ihm jedes Mittel recht ist. Seine Zufallsentdeckung, für die er in der Community wie ein Star gefeiert aber zugleich auch heftig angefeindet wird, mutet zunächst an wie der Schlüssel zur Unsterblichkeit. Während er einen Anthropologen bei seinen Forschungen über eine kleine Volksgemeinschaft auf einer abgelegenen Insel begleitet, entdeckt er, welche Auswirkungen der Konsum einer bestimmten Schildkrötenart auf Menschen dort hat. Ihre Körper hören auf zu altern. Das Ganze hat aber eine Kehrseite. Den Zerfall ihres Geistes hält die geheimnisvolle Substanz im Schildkrötenfleisch nicht auf, sodass die Menschen zwar damit uralt werden können, aber immer mehr nur dahinvegetieren.

So wie auch die zweischneidige Wirkung des Schildkrötenfleisches sinnbildlich verstanden werden kann, kann auch der Charakter Norton Perinas als ein lebendes Sinnbild der Wissenschaft im Ganzen aufgefasst werden, der nichts mehr heilig ist. Sie gibt zwar vor, zum Wohle aller zu sein, wird aber in Wahrheit von Raubtieren vorangetrieben, die sich gegenseitig bis aufs Blut bekämpfen, wenn es darum geht, die größten Brocken bzw. die größten Lorbeeren einzuheimsen. So wirft das Buch nicht nur ein faszinierendes Schlaglicht auf einen sehr speziellen Menschen, sondern auf den Wissenschaftsbetrieb im Ganzen. Die Frage, die dabei immer im Raum steht, ist die, wie hoch die Kosten des Fortschritts sein dürfen oder ob überhaupt noch von Fortschritt die Rede sein kann, wenn dafür ein Volk in all seinen kulturellen Eigenarten vernichtet und Tiere gequält werden. Das Buch erhält zusätzlich Brisanz dadurch, dass Norton Perina seine Memoiren, die den größten Bestandteil der Fiktion ausmachen, im Gefängnis verfasst, wo er wegen sexuellen Missbrauchs ihm schutzbefohlener Kinder verbüßt. Den Vorwurf, Yanagihara würde den Genius Perinas und sein nach meinen und allgemein westlichen Vorstellungen massives moralisches Fehlverhalten auf die Waage legen, halte ich für unbegründet. Das Buch entschuldigt sein Fehlverhalten nicht. Es relativiert es auch nicht. Es bleibt in seinen Beobachtungen so neutral wie es z.B. die Sicht eines Anthropologen wäre, in der moralische Wertung fehl am Platze wäre. Es wird dem Leser überlassen, zu werten, Abscheu zu empfinden und seine eigenen Moralvorstellungen an diesem Exempel zu messen. Auch den Vorwurf, der Roman sei an einigen Stellen sehr langatmig geraten, möchte ich nicht teilen. Ich sehe gerade eine Stärke darin, ein so dichtes atmosphärisches Gerüst aufzubauen, in dem man sich als Leser auch für eine längere Weile aufhalten möchte.

Ich halte den Roman für anspruchsvoll, aber ihn zu lesen verspricht großen Gewinn in mehrfacher Hinsicht. Er ist zugleich auch sehr unterhaltsam. Ich habe mich beim Lesen an keiner Stelle gelangweilt. Insgesamt halte ich „das Volk der Bäume“ für ein durchweg großartiges Werk.