Rezension

Kein Gangster - ein Gesetzloser

In der Nacht - Dennis Lehane

In der Nacht
von Dennis Lehane

Bewertet mit 2.5 Sternen

Joe Coughlin ist 19, als wir ihm das erste Mal begegnen. Außerdem raubt er zusammen mit seinen beiden Freunden gerade eine Spielhölle aus. So etwas in der Art - kleine Raubzüge, Einbrüche oder Diebstähle -, betreiben sie übrigens regelmäßig. Man könnte sagen, sie verdienen sich damit ihren Lebensunterhalt. Joe jedenfalls begegnet an diesem Tag, kurz nach dem Morgengrauen, Emma Gould, der Bedienung des Pokertisches, dem sie gerade das Geld klauen. Und Emma ist so außergewöhnlich in ihrer kühlen Art, dass Joe nicht anders kann, als sie zu suchen, obwohl es für ihn gefährlich werden könnte, wenn sie ihn wiedererkennt und verrät. Vielleicht hat Joe also Recht, wenn er meint, dass sich sein Leben anders entwickelt hätte, wäre er nicht Emma begegnet, aber darüber kann man streiten. Fraglos jedenfalls entwickelt sich eine Beziehung zwischen ihnen, denn Emma verrät ihn nicht - jedenfalls nicht sofort und auch nicht an die Bullen. Aber Joe weiß, dass er sich mit ihr auf ein gefährliches Spiel einlässt, denn Emma ist auch die Geliebte von Albert White, einem Gangsterboss, wie er im Buche steht. Doch weder Emma noch Albert sind schuld, dass ein Banküberfall von Joe und seinen Freunden schief geht und plötzlich drei tote Polizisten auf Joes Karmakonto stehen. Man kann ihnen vieles, was Joe später widerfährt vorwerfen, doch nicht das. Alles andere ... nun ja.
Joe kommt in den Knast und lernt dort Maso, einen weiteren Gangsterboss kennen. Maso macht ihn nach Verbüßen seiner Haftstrafe zu seinem Chef in Westflorida. Eine außergewöhnlich intelligente Entscheidung von Maso, denn was Joe dort anpackt, macht er zu Gold. Ein moderner Midas, verpackt in eine Gangstergeschichte in den Jahren der Prohibition in Amerika.

Joe Coughlin ist clever, abgebrüht und er sieht sich selbst nicht als Gangster, sondern als Gesetzloser. Lehane beschreibt ihn aus großer Distanz, und das ist auch das, was ich diesem Buch vorzuwerfen habe. Alles geschieht, als würde ich es aus weiter Ferne in einem Autokino beobachten, ich bin nie nahe genug an den Protagonisten dran, um ernsthaft Sympathie, Mitgefühl, Angst oder irgendwas anderes zu empfinden als milde Neugier, wie es weitergehen könnte. Am spannendsten dabei waren noch die Jahre im Gefängnis, bei allen anderen Ereignissen ging es mir zu glatt und clever zu. Joe, der gerade einmal Anfang 20 ist, als er den Job als Gangsterboss in Florida übernimmt, hat sofort den Respekt der Gangster und Leute für sich, und diejenigen, die ihm nicht den Respekt zugestehen, den er erwartet, überwindet er mit Hinterhälten und schlauen Plänen, die alle funktionieren.

Geradezu lächerlich empfinde ich dabei das Bemühen Joes oder auch Lehanes, Joe trotz allem als guten Mann darzustellen. Das ist er nicht. Er ist nicht gut, weil er seinen Freund, der bei den Bullen geplaudert hat, nicht erschießt. Er ist nicht gut, weil er seiner Lebensgefährtin gestattet, sich sozial zu engagieren. Er ist ein Gangster, jemand, der Prostitution und Ausbeutung fördert, kein Robin Hood, der von den Reichen nimmt und den Armen gibt. Mir ist es gleich, dass er nicht alle so gleichmütig über den Haufen schießt, wie es anscheinend andere Gangsterbosse tun, und dass er leises Bedauern empfindet, als einer seiner Leibwächter stirbt. Ansonsten zuckt er mit keiner Wimper, stellt nicht einmal seinen Lebenswandel in Frage. Er weiß, was er tut und er tut es genau deshalb.

Im Gegensatz zu anderen Büchern Lehanes hat mich dieses Buch nicht sonderlich überzeugen können. Ständig hatte ich das Gefühl, dass hier der GAR (der Große Amerikanische Roman) entstehen sollte, und auch die Klappentexte, die etwas von Epos und Meisterwerk erzählen, sollen diesen Eindruck vermitteln. Zweifellos kann Lehane schreiben und die Seiten fliegen nur so dahin und trotzdem ist es nichts Bleibendes. Es soll wohl der zweite Band einer Trilogie um die Coughlin-Brüder sein, aber man kann es eigenständig lesen, und ich werde mich den anderen Bänden auch nicht mehr zuwenden.

Fazit: Interessant, aber emotionslos, fast kalt.