Rezension

Lässt mein Sonderpädagoginnen-Herz höher schlagen.

Meine Königin - Jean-Baptiste Andrea

Meine Königin
von Jean-Baptiste Andrea

Bewertet mit 5 Sternen

„An diesem Morgen, in diesem von der neuen Sonne leuchtend gelben Zimmer, begriff ich etwas Wesentliches. Ich war sonderbar, nicht normal, voller Probleme, okay. Das hatte man mir immer und immer wieder gesagt. Aber im Grunde waren alle Menschen wie ich. Die anderen hatten auch ihre Malocchios, ihre Albträume und ihre Macrets, sie gaben ihnen nur andere Namen.“ (S. 105)

Dieses Buch hat mein Herz berührt. Mein Sonderpädagoginnen-Herz, das für Außenseiter und das Anderssein schlägt. Jean-Baptiste Andrea gibt hier einem jungen Helden eine Stimme, dessen intellektuelle Fähigkeiten in einigen Bereichen nicht seiner Altersnorm entsprechen, der aber das Herz definitiv am rechten Fleck hat. Zwischenmenschlich macht ihm keiner was vor, da hat er feine Antennen, kann Freund und Feind deutlich unterscheiden und ist treu bis zum Schluss.

Shell ist nicht wie andere Zwölfjährige. Er kann nicht lesen, schreiben oder rechnen. Buchstaben und Zahlen verheddern sich in seinem Kopf wie Spaghetti und auch Zeitangaben lassen sich für ihn nur schwer einordnen. Dafür kennt er sich mit Autos aus und kann tanken, ohne dass auch nur ein Tropfen Benzin daneben geht. Denn Shell lebt mit seinen Eltern auf einer Tankstelle in einem abgelegenen Tal mitten in der Provence. Um ihn herum Berge, Felsen und Benzinduft, die immer gleichen Strukturen, manchmal auch Langeweile, aber das alles gibt ihm Sicherheit. Als er von der Gesamtschule fliegt und auf eine Sonderschule weit weg von Zuhause geschickt werden soll, haut er ab, hoch hinauf in die Berge. Er will in den Krieg ziehen, wie ein richtiger Mann. Und trifft auf Viviane, seine Königin. Mit ihr scheint alles leichter, für einen Sommer lang.

Jean-Baptiste Andrea kann mit Wörtern malen, erschafft Kulissen vor dem geistigen Auge des Lesers. Die Schönheit der Natur mit ihren grünen Wiesen, den Bergen und Schafen und dem Brennen der Sonnenstrahlen auf der Haut, aber auch die Tristesse der heruntergekommenen Tankstelle, Shells Kinderzimmer, das Plumpsklo im Wald. Eindrucksvoll versetzt sich der Autor in die Gedankenwelt eines jungen Mannes, der von Tics und Zwängen bestimmt ist und die einfachsten Dinge vergisst, aber gleichzeitig wunderbar tiefsinnig über Gott und die Welt nachdenkt. Er beobachtet seine überschaubare Welt genau, schließt vom Kleinen auf das Große und das mit seiner herrlich natürlichen Art, in der immer wieder viel Situationskomik mitschwingt, die einem aber auch das Herz zerreißen kann.

„Man muss die Dinge so sehen, sagte mein Vater und zeigte auf das wunderschöne Foto des Alpha Romeo Giulietta über seinem Schreibtisch: Ich bin ein bisschen wie dieses Auto, aber mit dem Motor einer Ente drin. Er fragte mich, ob ich verstanden hätte, und ich sagte Ja, aber ich war mir nicht sicher. Wenn jemand ein so schönes Auto hat wie einen Alpha Romeo, spielt da der Motor eine Rolle? Ein Auto, das fährt, wo soll da das Problem sein? Vor allem, wenn es auch noch rot ist und so toll aussieht.“ (S. 21)

Als Shell auf Viviane, seine geheimnisvolle Königin, trifft, scheint auf einmal alles gut zu sein. Mit ihr teilt er Geheimnisse, erlebt Abenteuer und das Gefühl, so angenommen zu werden, wie er ist. Doch auch eine Königin kann schwierig sein, flüchtet sich in eine Fantasiewelt oder verschweigt ihre Probleme, um nicht verletzt zu werden. Und jeder noch so schöne Sommer hat irgendwann ein Ende.

Dem Autor ist hier ganz große Kunst in einem ganz kleinen Buch gelungen. Man könnte noch soviel mehr schreiben, aber glaubt mir: Jeder sollte Shell und Viviane selbst kennenlernen. Es lohnt sich. 

„Die Sonne ging auf und trieb einen dieser heißen Winde vor sich her, die einem manchmal weismachen, der Sommer würde zurückkehren. Aber er kommt nie zurück. Am Ende lügen alle Jahreszeiten.“ (S. 151 f.)