Rezension

Malayische Familiengeschichte

Nach uns der Sturm -

Nach uns der Sturm
von Vanessa Chan

Bewertet mit 1 Sternen

Nicht nur wir Deutsche kennen das Schweigen unserer Eltern- und Großelterngeneration über ihre Erlebnisse während des Zweiten Weltkriegs. Auch die malayische Schriftstellerin Vanessa Chan stieß bei ihren Großeltern auf ausweichende Antworten, wenn sie nach deren Vergangenheit fragte. Nur nach und nach erfuhr sie von ihrer Großmutter Details über die Jahre 1941 - 1945, wie sie im Vorwort schreibt. 
1941 marschierte die Kaiserlich Japanische Armee in Malaya ein ( so hieß Malaysia vor der Unabhängigkeit) und vertrieb die britischen Kolonialherren, die das Land seit über 150 Jahren besetzt hielten. Doch mit den Japanern kamen keine Befreier. Im Gegenteil, mit brutaler Gewalt herrschten sie über das Land.
Vor diesem historischen Hintergrund siedelt die Autorin ihren Debutroman an. Dabei erzählt sie abwechselnd auf zwei Zeitebenen.
Cecily lebt mit ihrem Mann Gordon und den beiden Kindern Jujube und Abel im britischen Malaya der 1930er Jahre. Gordon arbeitet als Beamter im Dienst der englischen Kolonialherren, Cecily ist mit ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter zutiefst unzufrieden. Da begegnet sie bei einem offiziellen Essen einem charmanten Hongkonger Kaufmann, der sich ihr bald als hochrangiger japanischer Offizier namens Fujiwara zu erkennen gibt. Ein Wendepunkt in ihrem Leben. Bereitwillig beginnt Cecily für Fujiwara zu spionieren. Sie stiehlt geheime Unterlagen vom Arbeitsplatz ihres Mannes und verhilft so den Japanern zu wertvollem Geheimwissen. Dabei wird Cecily von zwei Dingen angetrieben. 
Zum einen teilt sie die Ideologie des Japaners, der von einem „ Asien für die Asiaten“ träumt. Zu oft war sie dem alltäglichen Rassismus der Engländer ausgesetzt, musste sich von den Weißen demütigen lassen. Dabei fühlte sie sich mit ihrer eurasischen Herkunft, als Nachkommen von Portugiesen, den Malaien oder Indern und Chinesen im Land überlegen. Aber das galt innerhalb der weißen Kolonialgesellschaft nichts. „ Es war nichts Neues, dass die Briten die Einheimischen wie lästigen Schorf behandelten, mit dem sie leben mussten, bis sie ihn abkratzen und entsorgen konnten.“ Cecily träumt von einer besseren Zukunft für ihre Kinder, von einer Zukunft ohne Engländer im Land. 
Aber noch stärker ist ihre Motivation, dem Japaner zu gefallen. In obsessiver Liebe tut sie alles für ihn, verachtet sich aber gleichzeitig für ihre emotionale Bedürftigkeit.
Der zweite Erzählstrang führt ins Jahr 1945. Cecily wird von Schuldgefühlen geplagt, denn ihre Spionagetätigkeit hat mit dazu beigetragen, die schlimmste Besatzung in ihrem Land zu installieren. Und ihre Familie muss nun mit den Folgen leben. 
Ihr Mann hat seinen angesehenen Posten verloren und schuftet nun in einer Metallfabrik. Die älteste Tochter Jujube arbeitet in einem Teehaus, wo sie aufdringlichen japanischen Soldaten Tee einschenkt. Nicht einmal die leise Freundschaft zu einem älteren Japaner, der sie und ihre Familie unterstützt, kann ihren Groll auf die Lebensumstände beseitigen.
Jasmin, die siebenjährige Tochter, wird mit kurzgeschorenem Haar und in Jungenskleidung im Keller versteckt, damit sie dem drohenden Schicksal einer Trostfrau entkommen kann.
Aber am schlimmsten hat es den fünfzehnjährigen Abel getroffen. Er war eines Tages einfach verschwunden wie viele Jungen in seinem Alter. Er wird Gefangener in einem Arbeitslager und ist dort täglicher Gewalt und Demütigungen ausgesetzt.
Vanessa Chan erzählt aus vier Blickwinkeln. Während der erste Erzählstrang sich völlig auf die Figur der Mutter konzentriert, wird im zweiten vermehrt die Perspektive der Kinder eingenommen. So bekommt man nicht nur einen umfassenden Blick auf die verschiedenen Lebensumstände, sondern kommt auch den einzelnen Figuren sehr nahe. Das Leid, das jeder Einzelne erfährt, wird erfahrbar, besonders das Schicksal von Abel ist kaum erträglich. Dabei eignet sich keiner der Charaktere als Identifikationsfigur. Es sind keine Helden, die uns Vanessa Chan präsentiert, sondern Menschen, die widersprüchlich sind, die falsche Entscheidungen treffen, die befremdlich reagieren. Vor allem die Hauptfigur Cecily und ihre komplexe Beziehung zu dem undurchschaubaren Japaner ist ein rätselhafter Charakter. Auch Nebenfiguren werden differenziert gezeichnet.
Leider überschlagen sich am Ende die Ereignisse und manche unglaubwürdige Wendung bringen eine Dramatik in die Geschichte, der es nicht bedurft hätte. 
Der englische Titel „The Storm We Made“ trifft die Aussage des Buches weitaus besser als der deutsche, bringt er doch die Eigenverantwortung der Protagonisten mit ins Spiel.
Trotzdem habe ich den Roman gerne und voller Spannung gelesen.
Dieses Buch ist gerade auch für uns deutsche Leser interessant, die wir den Zweiten Weltkrieg vor allem aus der Perspektive Nazi-Deutschlands kennen. Wir wissen zwar von den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, doch wenig über den Krieg im Pazifik. Vanessa Chan gibt uns in ihrem Debut einen tiefen Einblick in die leidvolle Geschichte ihrer Heimat und füllt damit eine Lücke in unserem Geschichtsbild. Allein deshalb kann ich über einige literarische Mängel hinwegsehen.