Rezension

Man kann nicht mit einer Lüge leben

Dieses ganze Leben -

Dieses ganze Leben
von Raffaella Romagnolo

Bewertet mit 4 Sternen

Im Mittelpunkt des neuen Romans von Raffaella Romagnolo, der im Original schon 2013 erschien, steht die knapp 16jährige Paola De Giorgio. Sie wächst zusammen mit ihrem jüngeren behinderten Bruder Riccardo in einer sehr reichen Familie auf. Ihre wichtigsten Bezugspersonen sind der Bruder, den sie täglich im Rollstuhl ausfahren muss, das rumänische Hausmädchen Nina und die Großmutter. Die Eltern sind lieblos, nur mit sich selbst bzw. der Firma Costa Costruzioni beschäftigt. An Paola scheint die Mutter einzig und allein das Gewicht zu interessieren, das sie täglich kontrolliert. In der Schule ist Paola eine Außenseiterin ohne Freunde. Sie wird ausgegrenzt, gemobbt und mit einem peinlichen Video bei Facebook gedemütigt. Nur der zwei Jahre ältere Antonio Ferrari aus der armen Margeriten-Siedlung begegnet ihr freundlich. Paola sieht sich selbst sehr kritisch. Sie findet sich hässlich, was ihr das Video bestätigt, hasst eine Menge Dinge, vor allem solche, die andere schätzen und schweift gern ab.

Mit vielen Zeit- und Gedankensprüngen erzählt sie von ihrer Situation und von ihrer Familie, wo das große Schweigen herrscht und niemand über wirklich wichtige Dinge spricht. Ihr Adressat ist die imaginäre Freundin Carmen. Häufiger wendet sie sich auch direkt an den Leser. Schon frühzeitig hat Paola und mit ihr der Leser den Eindruck, dass mit der Firma ihres Vaters etwas nicht stimmt und alles auf eine Katastrophe zusteuert. Warum hasst ihre Mutter die Margeriten-Siedlung so sehr, und was hat es mit dem Bauprojekt Biosolar auf sich? Am Ende wird das viele Jahre dauernde Schweigen gebrochen, und die Wahrheit kommt endlich ans Licht. Obwohl die Zukunft der Familie in jeder Hinsicht ungewiss ist, erlebt Paola diese Phase als Befreiung.

Paola ist eine sehr sympathische Protagonistin, vor allem in ihrem engen Verhältnis zum Bruder, der sie seinerseits in kritischen Situationen beschützt und keineswegs so hilflos ist, wie es anfangs den Anschein hat. Auch die Charakterisierung der übrigen Figuren ist gelungen, wobei der stets abwesende Vater am blassesten bleibt. Mir hat der Roman gut gefallen, auch wenn mir eine Dimension verschlossen blieb: die der zahlreichen Anspielungen auf Handlung und Personal der Harry Potter-Romane, die ich nicht kenne. Auch so überzeugt mich das Buch, obwohl ich „Bella Ciao“ mit seinem historischen Hintergrund ungleich gehaltvoller fand. „Dieses ganze Leben“ ist auf jeden Fall empfehlenswert.