Rezension

Meisterhafte Verflechtung von Historie, Folklore und Mystik

Ein Rätsel auf blauschwarzem Grund -

Ein Rätsel auf blauschwarzem Grund
von Lars Mytting

Bewertet mit 5 Sternen

Mit „Ein Rätsel auf blauschwarzem Grund“ legt Lars Mytting den zweiten Band einer Trilogie vor – die Fortsetzung von „Die Glocke im See“. Die Handlung setzt im Jahre 1903 ein. Wir begegnen Butangen wieder, dem Dorf im norwegischen Gudbrandsdalen, und einigen bekannten Personen. Kai  Schwaigaard, Pastor des Dorfes, hat den Tod seiner heimlichen Liebe Astrid nicht verwunden und versucht nun, seine Hand über Jehans, Astrids Sohn, zu halten. Jehans Zwilling, so heißt es, ist bei der Geburt gestorben. Auch die Legende um die Hekne-Schwestern, die am Ende des 16. Jahrhunderts als siamesische Zwillinge geboren wurden und für ihre kunstvollen Teppichwebereien bekannt wurden, spielt weiterhin eine wichtige Rolle. Dabei ist die Kenntnis des ersten Bandes nicht nötig, um den vorliegenden Roman genießen zu können; er bildet eine abgeschlossene Geschichte.

Diese spannt den Bogen von Norwegen bis Dresden und von Schottland bis Ceylon, dem heutigen Sri Lanka. Jehans begegnet bei der Jagd in den Bergen über dem Gudbrandsdalen Victor, einem jungen Schotten, dem er sich rätselhaft verbunden fühlt. Fortan sind sein Leben und das des Fremden miteinander verflochten.

Wer befürchtet hat, dass die großartige „ Glocke im See“ unmöglich eine würdige Fortsetzung haben kann, darf beruhigt sein. Das „Rätsel“ ist ebenso komplex wie kunstvoll gewebt und hat bis in die letzte Nebenfigur ebenso tiefgründige, echte Charaktere. Besonders gefielen mir die kraftvollen Frauenfiguren. Dazu ist der Roman in allen Bereichen, von der Teppichweberei über die Landwirtschaft bis zur Gewinnung von Strom aus Wasserkraft bestens recherchiert. Diese Informationsfülle ist so geschickt in die Handlung integriert, dass es niemals zu viel oder störend wird, im Gegenteil: Ich fühlte mich sehr bereichert. Dazu gab es Kapitel von solch szenischer Kraft, dass ich glaubte, einen Film zu sehen. Als Beispiel nenne ich die „Sensjagd“, die manchmal bei der Mahd der Heuwiesen stattfindet, wenn ein Dörfler den besten Senser an der Spitze herausfordert. Eine soziale Studie, spannend wie ein Krimi.

Meisterhaft schildert Mytting den Aufbruch eines Dorfes in die Moderne. Jehans steht für technischen Fortschritt und soziale Beweglichkeit  - die war nicht vorgesehen in der dörflichen Hierarchie. An der Stelle, in die man hineingeboren wurde, verblieb man sein ganzes Leben. Wie das gewesen sein muss, macht der Roman nachfühlbar. In der Figur des Pastors gelingt es dem Autor, Naturglaube, Christentum und folkloristische Mystik miteinander zu versöhnen, was dem Roman philosophische Tiefe verleiht. Über das dörfliche Norwegen hinaus öffnet Mytting den Blick auf ein Europa, dessen teils junge Nationen um eine eigene Identität ringen, um sich im bis dahin tödlichsten aller Kriege wiederzufinden.

Die  zahlreichen Fäden der Geschichte in ihrer Komplexität und Vielfalt empfand ich als verbale Entsprechung zum bedeutsamen Hekne-Teppich. Dunkelbunt, schillernd, oft rätselhaft, alles ineinander verwoben, ohne einander nicht denkbar, eins das andere bedingend. Der Roman besticht durch seine makellose Konstruktion, seine menschliche Wärme, die gründliche Recherche, den Witz seiner Dialoge und die klare Bildhaftigkeit von Myttings Sprache.

Die Handlung schließt 1919 mit der Geburt eines Kindes. Beim letzten Satz habe ich nach Luft geschnappt und zum Taschentuch gegriffen – und ich gehöre zur eher sachlichen Fraktion.

Allerwärmste Leseempfehlung!