Rezension

Moderne Städter in der Klimakatastrophe ...

Der Anfang von morgen -

Der Anfang von morgen
von Jens Liljestrand

Bewertet mit 4.5 Sternen

Didrik und Carola hatten die Zeit nach der Geburt ihres dritten Kindes exakt geplant. Versorgt durch das staatliche Elterngeld in Schweden, würden sie einen Traumurlaub in Thailand verbringen und ihre Wohnung  währenddessen untervermieten. Doch eine Kette von Waldbränden verhindert ihre Rückkehr nach Stockholm. Mit zwei Kindern und einem wenige Monate alten Baby werden sie abrupt zu Klimaflüchtlingen – in einer dünn besiedelten Ferienhaus-Gegend, deren Bewohner sich dort traditionell selbst versorgen mussten. Da aufgrund der ungewöhnlichen Sommerhitze selbst die Bahnverbindung nicht mehr funktioniert, sind sie Bittsteller im eigenen Land – mit dem Wissen, dass die Babynahrung für die kleine Becka, die sie bei sich haben, nur für einen Tag reichen wird.  In dieser Situation wird die Familie getrennt und Didrik bleibt allein mit dem Baby zurück. Didrik ist nicht allein damit, dass er ein Baby zu versorgen hat und seine Familie suchen muss, als Städter jedoch völlig überfordert, in einer Krise besonnen zu handeln. Beim dritten Kind ist Didrik noch immer ahnungslos, wie ein Babyfläschchen zubereitet wird; denn bisher war er stets Empfänger von Dienstleistungen. Als Bürger eines Wohlfahrtsstaates ist er nach wie vor überzeugt, dass er ein Recht auf funktionierende Infrastruktur hat und „der Staat“ für seine Bevölkerung zu sorgen hätte.

In Stockholm treffen wir in einem weiteren Handlungsstrang die Influencerin Melissa, deren Einkünfte trotz der Waldbrand-Serie  konstant weiterfließen. Sie hatte vor Beckas Geburt eine Affäre mit Didrik, der sie im Glauben ließ, dass er sich von Carola trennen und zukünftig Wochenendvater für Zacharias und Vilja sein würde. Dass Didrik einmal ihre Hilfe benötigen würde, wäre beiden im Traum nicht eingefallen. Durch die Luxus-Wohnung, die Melissa gerade hütet, besteht eine Verbindung zu André, Sohn eines ehemals erfolgreichen Tennis-Stars, für den Geld bisher nie eine Rolle gespielt hatte. Die Handlungsfäden treffen schließlich im Schärengarten um Stockholm aufeinander in der Begegnung zwischen Haus- und Bootsbesitzern, Klima-Aktivisten, freiwilligen Helfern, die die Gestrandeten betreuen, – und der 17-jährigen Vilja.

Jens Liljestrand karikiert in seinem dystopischen Szenario die Anspruchshaltung des modernen Städters im Jahr 2 der Corona-Pandemie, während Waldbrände aufgrund der Klimaerwärmung bereits buchstäblich die Türschwelle erreicht haben. Vier Icherzähler treten auf, deren Texte jeweils eigene Übersetzer ins Deutsche erhalten haben. Didrik, der in einer Notsituation am wenigsten Teamfähigkeit einbringt, scheint anfangs ungewöhnlich viel Redezeit zu erhalten. Die interessanteren Perspektiven waren für mich Melissas, Viljas und die der Klimaaktivisten, denen Besitzstandswahrer in den Schären die Augen dafür öffnen, welche Widerstände noch vor der kritischen jüngeren Generation liegen. Ein komplexer Plot mit zahlreichen Rückblenden, die mich einige Male daran zweifeln ließen, ob ich  Erinnerungen der jeweiligen Erzählerstimme lese oder ihren Alpträumen folge.