Rezension

Orient-Teppich-artiger Plot - sehr gut - sehr komplex

Die Reisenden - Regina Porter

Die Reisenden
von Regina Porter

Bewertet mit 4 Sternen

Jimmy Vincent junior  ist Sohn eines irischen Einwanderers und vollzieht mit seinem Jura-Studium den klassischen Aufstieg, den seine Eltern sich für ihn erträumt haben. Mit 31 ist er bereits Teilhaber einer großen Anwaltskanzlei. Seit seiner Studentenzeit empfindet er aus einem Unterlegenheitsgefühl aufgrund seiner Herkunft eine tiefe Unsicherheit, den Anforderungen nicht zu genügen und eine Unbeholfenheit gegenüber Frauen. Agnes Miller, Tochter eines Diakons, hat eine enge Beziehung zu ihrer Freundin Eloise, die zeitweise in der Familie Miller lebt. Als Agnes den Ingenieur Claude kennenlernt, der unbedingt weiterkommen und dazu nach New York oder Kalifornien ziehen will, fragt Claude Agnes als erster in ihrem Leben, was sie will. In Claudes Familie kommt Agnes näher mit der Bürgerrechtsbewegung in Berührung und erlebt, wie Claude in einer Polizeikontrolle verhaftet wird. Agnes heiratet jedoch Eddie aus Little Italy, der bald darauf zum Kriegsdienst in Vietnam einberufen wird. Weil er unbedingt aus der Bronx weg will, bewirbt Eddie sich nach seiner Rückkehr bei der Navy. Aus der unmittelbaren Gegenwart ist die Stimme der Icherzählerin Beverly zu lesen, die als Krankenhausmanagerin arbeitet, auch in Little Italy aufgewachsen ist und deren Mann Polizist ist. In Beverleys Krankhaus liegt heute James S. Vincent als Patient. In der folgenden Generation treten Jimmys Sohn Rufus/Ruff  und Sigrid auf, Jimmy Vincents Schwiegertochter.

Während Eddie nach dem Krieg etwas unmotiviert die Rolle als Hausmann einnimmt, kippt um ihn herum sein Stadtviertel und setzt eine Wanderungsbewegung ohne Ende in Gang. Wer sich zwischen den Nationalitäten und Kulturen seiner Nachbarn nicht mehr wohlfühlt, zieht weg und verstärkt damit die Abwanderung und den Wertverlust  der Häuser in der Nachbarschaft. Im nächsten Jahrzehnt zieht eine gebildete katholische Familie frisch in ein Stadtviertel. So lernen sich die Camphors (weiße Oberschicht ) und die Applewoods (schwarze Oberschicht) kennen und verkörpern beispielhaft die Konflikte einer Gesellschaft mit strenger Rassentrennung. Die Söhne Gideon und Hank ahnen damals noch nicht, was sie später, Rassenschranken zum Trotz, verbinden wird. Ein weiterer Knotenpunkt der Geschichte ist der gemeinsame Militärdienst von Jebediah Applewood und seinen Vettern in Vietnam. Dass Eloise erst 2010 als Armeeangehörige bis nach West-Berlin reisen muss, um ihre Identität leben zu können, könnte als Rahmen des Romans dienen.

Kleine Schwarz-Weiß-Fotos zu Beginn jedes Kapitels lassen die Einzelschicksale sehr authentisch wirken. Darunter zeigt einer Art LED-Anzeige einen Zeitstrahl, auf dem jeweils eine Jahreszahl hervorgehoben ist. Diese Darstellung bringt mich auf die Idee, dass die Verknüpfung von Epochen und Generationen der Kern dieses Romans sein wird. Porter scheint durch die Lebensläufe zu rasen und dabei stets etwas Ungesagtes zurückzulassen. Die Codes einer im Kern rassistischen Gesellschaft sind nicht immer leicht zu lesen, wenn man selbst Religion und Hautfarbe nicht automatisch mitdenkt. Ein einfache Personenliste im Anhang genügt der komplexen Struktur des Romans meiner Ansicht nach nicht.

Regina Porter verarbeitet die Geschichte schwarzer und weißer Familien über mehrere Generationen zu einem kunstvollen Teppich aus Geschichten, in den sie zahlreiche Verbindungen ihrer Figuren einknüpft. Porters Figuren begegnen sich in alltäglichen Situationen als Nachbarn, im Beruf oder im Einsatz von Feuerwehrleuten. Der Kreis an Personen, der sich damit schließt, umfasst sogar einen ausgestopften Alligator von mehreren Meter Länge. Porters zentrales Thema ist Identität und wer diese aus Herkunft, Hautfarbe, Religion, Bildung und sexueller Identität eigentlich definiert. Sind ihre Figuren das, was sie selbst empfinden oder das, was ihnen von anderen zugeschrieben wird? Wer bin ich und für wen halten andere mich? Diese Identität scheint am Rand zunehmend auszufransen und genau deshalb halten die Figuren umso kräftiger daran fest. Ich habe mich gefragt, ob es in den USA seit den 60ern bis heute überhaupt möglich ist, seine Identität zu definieren und seinen Platz im Leben zu finden.  Es geht in Porters netzartigem Plot um Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit, um gesellschaftlichen Aufstieg, die Ignoranz der Schichten, die es bereits geschafft haben, um Krieg und wie ein Land seine Veteranen behandelt.

Ich finde den Roman großartig, gebe jedoch nur 4 Sterne, weil die Orient-Teppich-Struktur manchen Lesern zu kompliziert sein wird.