Rezension

Oxford und der Erste Weltkrieg

Die Buchbinderin von Oxford -

Die Buchbinderin von Oxford
von Pip Williams

Bewertet mit 5 Sternen

Nachdem ihre Mutter früh verstorben ist, fühlt sich die junge Peggy Jones für ihre "besondere" Zwillingsschwester Maude verantwortlich, nur von der zumeist abwesenden Tilda, der besten Freundin der Mutter, unterstützt. Die Schwestern wohnen auf einem kleinen Kanalboot voller Bücher und arbeiten gemeinsam in der Buchbinderei der Oxford University Press im Arbeiterviertel Jericho. Peggy, die bei der Arbeit oft ermahnt wird, sie solle "die Bücher binden und nicht lesen", träumt davon, in ein neues Leben auf der anderen Seite von Oxford aufzubrechen und am Somerville College, dem für Frauen gegründeten College der Universität Oxford, zu studieren. Als der Erste Weltkrieg ausbricht und immer mehr Männer in den Krieg ziehen, verändert sich die Situation für die Frauen in der Heimat und Peggy erschließen sich neue Möglichkeiten, während Tilda als Kriegskrankenschwester nach Frankreich aufbricht und viele geflüchtete Belgier in Oxford ankommen.....

Nach dem außergewöhnlichen und charmanten Erstlingswerk der Sozialwissenschaftlerin und Autorin Pip Williams "Die Sammlerin der verlorenen Wörter" legt diese nun mit "Die Buchbinderin von Oxford"  den von mir ersehnten zweiten Roman vor. "Die Buchbinderin" ist dabei keine Fortsetzung des Debütromans; allerdings werden Orte und Figuren ganz nebenbei wieder aufgegriffen und das "Frauenwörterbuch" findet Einzug, was ich bezaubernd fand.

Auch dieser historische Roman von Pip Williams ist wieder sehr ruhig und die Geschichte fließt langsam dahin. Wer einen historischen Roman mit viel Action und atemloser Spannung erwartet, sollte von diesem Buch die Finger lassen; mir hat der sanfte, anspruchsvolle Schreibstil der Autorin jedoch sehr gefallen, der mit viel Tiefe, detaillierten Beobachtungen und genauer Recherche daherkommt und mich von Anfang bis Ende in seinen Bann zog.

Dass es bei diesem Roman um das Thema des Buchbindens geht und die Autorin mit vielen Details und Fachbegriffen aufwartet, ist für Bücherliebhaber durchaus ein Genuss. Auch viele bedeutende Bücher, die zu jener Zeit bei der Oxford University Press - vielleicht von Peggy - gefalzt wurden, spielen eine Rolle. Nach fünf von ihnen sind die fünf Teile des Romans benannt.

Was mich aber absolut faszinierte, ist der unerwartete Blickwinkel, aus dem die Autorin die Zeit des Ersten Weltkrieges darstellt: während die meisten Zeugnisse dieser Zeit von Männern stammen und sich damit unweigerlich auf die Erfahrungen derer beziehen, die gekämpft haben und gefallen sind oder sich für diejenigen interessieren, die zuhause warten und trauern, stellt die Autorin in diesem Buch die Frauen in den Mittelpunkt, die zuhause ihrer Arbeit nachgehen und die, die gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen. Und während es zumeist um gebildete Frauen und solche aus der Oberschicht geht, stehen hier bewusst die Schwestern Peggy und Maude aus der Arbeiterklasse im Zentrum des Geschehens. 

Ein besonderes Augenmerk hat die Autorin stets auf die - zu dieser Zeit noch beklagenswert mangelhaften - Frauenrechte, ihre schlechte Ausbildung, die Trennung der Arbeitsbereiche nach Mann und Frau und die nur langsam wachsende Zustimmung zu einem Frauenwahlrecht.

Die Figuren werden authentisch geschildert und man erhält beim Lesen einen tiefen Einblick in ihre Gefühlswelt; dabei wird Freude wahr. aber auch Enttäuschungen und Negatives nicht ausgespart. was manchmal nur schwer auszuhalten ist - und jede einzelne Figur hat ihre Ecken und Kanten. Aufwühlend sind in diesem Zusammenhang die (kursiv gedruckten) Briefe Tildas an Peggy mit ihren Eindrücken von der Militärbasis Étables und ihre Art, mit den Schrecken umzugehen und die Beschreibungen des belgischen Offiziers Baastian, dem das halbe Gesicht weggerissen wurde und der nunmehr propagiert "nicht den Kopf zu verlieren".

Pip Williams hat wieder einen außergewöhnlichen Roman geschrieben, auf den es lohnt, sich einzulassen und mitzufühlen und der noch lange nachhallt.