Rezension

Prädikat Lesenswert

Der unsichtbare Gast - Marie Hermanson

Der unsichtbare Gast
von Marie Hermanson

Bewertet mit 5 Sternen

Eine tiefsinnige wie spannende Geschichte zu akuten Themen der heutigen Gesellschaft, die zum Nachdenken anregt und noch länger nachhallt.

Es ist eine gekonnt erzählte Geschichte, die der heutigen Gesellschaft Spiegel vor Augen hält und die unschönen Seiten sichtbar werden lässt.

Martina, die Erzählerin, ist eine junge Frau ohne Ausbildung oder Studium, die nach wenig erfreulichen Versuchen gute Arbeit zu finden auf dem Landgut Glimenäs landet. Ihre ehem. Schulfreundin Tessan, die Martina zufällig vor einem Kaffe in der Stadt trifft, bringt sie dorthin. Tessan pflegt auf dem Gut eine achtzigjährige vermögende Dame Florence, die in der Vergangenheit, in den 40-ger Jahren des letzten Jahrhunderts, verfangen zu sein scheint. Martina wird Florence vorgestellt und erhält ein Angebot, als Sekretärin bei ihr zu arbeiten. Martina willigt ein und zieht nach Glimenäs. Das gut ist groß und das Haus bietet Platz für ein 16-Jähriges Mädchen und zwei junge Männer, die später dort landen. Florence behandelt alle respektvoll und bietet den jungen Leuten ohne Arbeit und jegliche Perspektive, diese zu bekommen, ein Dach über dem Kopf und eine halbwegs bezahlte Arbeit, für die sie sich nicht kaputt zu machen brauchen. Sie dürfen sich außerdem aus ihrem Keller mit besten Weinen bedienen, an Essen und Freizeit mangelt auch nicht. Was daraus wird, das muss man lieber selbst lesen.

An manchen Stellen war ich regelrecht schockiert: Das kaltherzige Verhalten der Eltern zu ihren Kindern und das Verhalten dieser Kinder am Ende zu Florence oder zu ihrem „Enkel“, der zum Schluss auf Glimenäs auftaucht. Auch die Tatsache, wie scheinbar leicht über Leben und Tod entschieden wird, ließ mich staunen. Die Eltern von Martina und auch die von Andreas, die Generation also, die noch ihre Jobs, ihr regelmäßiges Einkommen wie ihre Vermögenswerte und Häuser hat, bringen absolut kein Verständnis für die heutige Perspektivenlosigkeit ihrer Kinder. Ob studiert oder nicht, haben die Kinder dieser gut betuchten Generation kaum eine Chance, einen Job zu finden und somit ihr Leben in den Griff zu bekommen. Diese Chancenlosigkeit der jungen Menschen, die Unmöglichkeit, eine sinnvolle wie gut bezahlte Beschäftigung zu finden, bildet den Hintergrund der Geschichte und evtl. auch die Ursache der schrecklichen Geschehnisse auf dem Gut Glimenäs. Die Themen wie Freundschaft, Liebe, familiärer Zusammenhalt, Dankbarkeit, Fairness, respektvolles Miteinander, und viele andere ragen vor diesem Hintergrund klar heraus.

Interessant fand ich auch einen Aspekt, den Martina in der Mitte der Geschichte anspricht: sie versucht zu verstehen, ab wann die Idylle auf Glimenäs zu Ende war, ob es daran lag, dass Männer dorthin kamen, denn solange nur Frauen dort lebten, herrschte verschlafene Zufriedenheit a lá leben und leben lassen. Sobald Männer dort auftauchten, gab es bald Hierarchien, unverhohlene Rivalitäten, Respektlosigkeit, Streit. Die harmonische Atmosphäre war unwiederbringlich zerstört und bis zum Mord war dann auch nicht mehr weit.

Die Figuren sind meisterhaft gelungen: sie wirken wunderbar authentisch. Florence ist besonders gut geworden, ihr schrulliger „Enkel“ steht ihr im nichts nach. Auch die jungen Leute aus der Clique mit ihren Problemen und Verhaltensweisen wirkten wie aus dem realen Leben entsprungen.

Der Plot und die Idee lassen sich ebenfalls sehen. Es gibt nicht viel Action. Die Geschichte ist ein einleuchtendes Beispiel dafür, dass man nicht viel Action braucht, um gute Spannung zu erzeugen und die Leser immer weiter lesen zu lassen.

Die Geschichte ist insgesamt gut erzählt, wobei für meine Begriffe zu viel erklärt wurde.

Die Sprache ist klar und ausdrucksstark. Die ganze Zeit, spätestens ab dem Punkt, als die Handlung auf Glimenäs zu spielen anfing, hing etwas Bedrohliches in der Luft. Es war klar: etwas Unheimliches wird passieren. Einige Überraschungen wurden auch aufgetischt, die meisten kommen zum Schluss und runden das Ganze ab.

Die Geschichte hat es in sich und wirkt noch länger nach, verleitet zum Nachdenken über die o.g. Themen, auch über einige Fragen, die zum Glück nicht erklärt wurden.

Fazit: eine tiefsinnige wie spannende Geschichte zu akuten Themen der heutigen Gesellschaft, die zum Nachdenken anregt und noch länger nachhallt. Eine klare Leseempfehlung und die wohl verdienten 5 Sterne.