Rezension

Reiche Fundgrube abendländischer Philosophie

Jäger des verlorenen Verstandes -

Jäger des verlorenen Verstandes
von Markus Spieker

Bewertet mit 4 Sternen

Das intelligente Cover mit dem witzigen Titel hat mich neugierig gemacht, geschickt unterstützt von einer augenzwinkernden Eule, die dezent einen alten Stich des Turms von Babylon umrahmt. Derartig angezogen, las ich ein Vorwort, das Lust auf die weitere Lektüre macht, denn schnell wird klar, dass das Buch nicht in erster Linie für ein Fachpublikum geschrieben ist. Die Sprache ist einfach, hin und wieder sogar flapsig, und lässt sich darum so mühelos lesen. Das ist auf jeden Fall mal ermutigend, bedenkt man die Dicke des Wälzers. 

Und schon geht es los: Gegliedert in fünf Überthemen (Feind der Weisheit/ Wesen der Weisheit/ Quellen der Weisheit/ Ziele der Weisheit/ Wege der Weisheit) führt uns Markus Spieker quer durch die Jahrhunderte der Philosophie. Vieles hat mich daran begeistert; der Autor hat eine bemerkenswerte Gabe, komplexe philosophische Fragestellungen immer wieder in einfachen Worten interessant auf den Punkt zu bringen. Was nicht heißt, dass das Buch nicht auch seine Längen hat, die ganz unvermeidlich sind, erliegt doch der Autor trotz aller Lockerheit immer wieder auch der Versuchung, in Anlehnung an die gelernte wissenschaftliche Gründlichkeit alles und alle gleichermaßen abhandeln zu wollen. Das machte die Lektüre in meiner Wahrnehmung hin und wieder ein bisschen zäh (auch die ellenlange Aufzählung von Filmtiteln, um den Verfall der Kinokunst zu belegen, mag nicht jedermanns Sache sein). Aber immer kriegt der Autor die Kurve und nimmt mich wieder mit. Im dritten Teil, der mir besonders gut gefallen hat („Die Quellen der Weisheit“) ist Spieker voll in seinem Element. Hier lässt er besonders christliche Philosophen zu Wort kommen. Der Konflikt zwischen Glauben und Denken wird thematisiert, an dem sich Köpfe wie Kierkegaard oder Heidegger rieben. Dann wieder zitiert der Autor Konfuzius und stellt die interessante Frage, ob man als Christ auch bei anderen Kulturen in die Weisheitsschule gehen kann. Die Bibel gibt hier Antwort, indem sie weise Figuren aus dem nichtjüdischen Kulturkreis anführt (Melchisedek, Kyrus ...). 

Unter dem Unterthema „Freiheit“ findet man eine sehr interessante und auch interessant kommentierte Zusammenstellung von Freiheitsdenkern verschiedener Jahrhunderte. Überzeugt haben mich auch immer wieder wunderbar auf den Punkt gebrachte Kurzanalysen gewichtiger Statements wie das berühmte „Geh mir aus der Sonne“ des Diogenes an Alexander den Großen („Macht kann schwere Schatten auf unser Erkenntnisvermögen werfen“). Hier schreibt jemand, der wirklich Spaß hat an der Philosophie und am geschliffenen Wort. 

Natürlich reibt man sich als kritischer Leser auch ganz unvermeidlich an dem einen oder anderen „weisen“ Zitat. Aber auch manches, was der Autor selber folgerte, regte mich zum Widerspruch an. Außerdem fand ich es schwierig, trotz des folgerichtigen Aufbaus den Überblick nicht zu verlieren. 

Leider erliegt Spieker hin und wieder der Versuchung, Denker, die er nicht so schätzt, in die Pfanne zu hauen, ohne sie wirklich fair zu Wort kommen zu lassen. Das ist kein guter Stil, leider im heutigen Journalismus weit verbreitet, was aber keine Entschuldigung ist. Und die weisen Sprüche von Martin Heidegger fand ich nun wirklich ziemlich furchtbar; trotzdem muss das Heidegger-Bashing am Ende nicht sein. („[...] Emporkömmling Heidegger, der vielleicht auch deshalb seine geistige Potenz überschätzte. Wer sich seinen Erfolg hart erarbeitet hat, bildet sich mehr darauf ein.“- Mehr pauschale Vorurteile gehen nicht). Das ist immer wieder enttäuschend, dass der Autor zwischen all den Weisheitsperlen solche Böcke schießt. Auch wie er mit wenigen dahingeworfenen Sätzen Edith Piafs „Je ne regrette rien“ diskreditiert, finde ich respektlos. Hier urteilt mal wieder ein Mann, der keinen Schimmer hat von der Mühsal der weiblichen Emanzipationsgeschichte. Ich empfehle hierzu dringend die Lektüre von „Sie und Er“ von George Sand.

Etwas auf Kriegsfuß stand ich zudem mit dem ersten Kapitel. Dass Spieker unter dem Oberthema „Der Feind der Weisheit“ zunächst einmal die Torheits-Merkmale genüsslich zelebriert, verflacht das ambitionierte Projekt gleich zu Anfang. Sodann kämpfte ich mich geduldig durch Begriffe wie „Ambiguitätstoleranz“ oder „Inkompetenzkompensationskompetenz“, nur um dann bei solchen relativistischen Bonmots zu landen wie „Wer im Trüben fischt, erhöht die Fangquote durch die Anzahl der Angeln.“ 

Trotz dieser von mir empfundenen Schwachpunkte ist das Buch insgesamt eine echte Heldentat. Spieker ist eine unglaublich reiche Zusammenstellung abendländischer Philosophie gelungen, die immer wieder verblüfft und mich vieles gelehrt hat. Ob Sophokles, Etty Hillesum, Matthias Claudius, Platon, Nietzsche, Epiktet, Oswald Chambers, oder einfach auch mal Otto Waalkes (warum nicht?); die Lektüre der Weisheiten unserer Kultur bereichert auf jeden Fall. Man lese dieses Buch kritisch, aber man lese es; es lohnt sich. 

Den "Gipfel der Weisheit" gibt es auf dieser Welt nicht, nur kleine Etappenerfolge. Darüber bin ich mir auch deshalb im Klaren, weil ich das Buch nicht mit der Selbstgewissheit eines Bergbezwingers geschrieben habe, sondern mit der Naivität eines lernbegierigen Wanderers. (Markus Spieker)