Rezension

Sehr wichtiges, sehr mutiges Buch

Inside IS - 10 Tage im 'Islamischen Staat' - Jürgen Todenhöfer

Inside IS - 10 Tage im 'Islamischen Staat'
von Jürgen Todenhöfer

Bewertet mit 5 Sternen

Jürgen Todenhöfer ist jemand, der die Wahrheit herausbekommen will. Deswegen redet er immer mit beiden Seiten. Und versteht das noch nicht automatisch als politische Positionierung. Letztendlich kann es passieren, dass er sich beide Seiten zu Feinden macht, weil er sich eben nicht auf eine Seite schlägt.

Aalglatte Moralisten werfen ihm vor, dass er mit Menschen redet, die ihre Hände mit Blut besudelt haben. Es ist tatsächlich eine Gratwanderung, aber Todenhöfer beherrscht sie. Ich könnte das nicht - zu schnell hätte mich so mancher Gesprächspartner überrumpelt. Publicity-Leute vom Schlage eines Markus Lanz könnten es auch nicht - sie würden gar nicht richtig zuhören. Todenhöfer hört zu - und lässt sich doch nicht vereinnahmen. Das zeigt, was für ein hervorragender Journalist er ist und gibt ihm das Recht und die Befähigung, solche Gespräche zu führen. Der Gewinn, den wir davon haben, ist enorm. Wir bekommen einen echten Einblick in die Welt des IS und begreifen, wie hochgradig gefährlich er ist.

Todenhöfer schreibt, was keiner hören möchte. Aber hören muss. Er gibt den Tätern ein Gesicht. Er schafft es, den berüchtigten deutschen IS-Mann Abu Qatadah so von seinen ehrlichen Absichten zu überzeugen, dass dieser ihm erlaubt, Kontakt zu seiner Mutter aufzunehmen. Das Interview mit der Mutter findet statt. Es ist erschütternd. Weil man begreift, was für ein wunderbarer, kluger, und zutiefst menschlicher junger Mann das war, bevor er sich die menschenverachtende konsequente Erbarmungslosigkeit des IS zu eigen machte. Es passt nicht in unsere Schablone von Gut und Böse, was da passiert ist.

Todenhöfer will kein Verständnis für die kranke Ideologie des IS wecken, schon gar nicht diese verharmlosen. Er redet nicht nur mit beiden Seiten, er kritisiert auch beide Seiten scharf. Desillusioniert von der westlichen Doppelmoral, berichtet er selbstkritisch: "Als ich 1975 als junger Abgeordneter der indischen Premierministerin Indira Ghandi einen unerbetenen Vortrag über die Bedeutung der Menschenrechte für die westliche Politik hielt, fragte sie erstaunt: 'Glauben Sie das wirklich?'"

Todenhöfer beginnt das Buch mit einem geschichtlichen Abriss über den "Islamischen Staat". Das zweite Kapitel räumt mit unserem verklärten Bild vom moralisch überlegenen Westen auf.
Im dritten Kapitel erzählt Todenhöfer davon, wie man auf dem Weg der Wahrheitsfindung zwischen die Fronten geraten kann, wenn man darauf beharrt, objektiv bleiben zu dürfen und mit beiden Konfliktparteien zu sprechen.

Im Juni 2014 reist Todenhöfer in den Irak, um sich ein Bild der Lage zu machen. Er besucht mehrere Flüchtlingslager. Es folgen, von Deutschland aus, Skype-Interviews mit verschiedenen deutsch-stämmigen Jihadisten, dann eine sehr ausführliche Wiedergabe der Skype-Gespräche mit Abu Qatadah, mit dem in mühsamer Kleinarbeit die Bedingungen der Reise in den "Islamischen Staat" ausgehandelt werden. Todenhöfer wird der erste Journalist sein, der von dort lebendig zurückkehren wird. Der zweite Teil des Buches ist dieser Reise gewidmet und trägt den Untertitel "Grobe Skizzen eines Albtraums". Dies ist der Tatsache geschuldet, dass Todenhöfer und seine beiden todesmutigen Begleiter entgegen vorheriger Zusagen zwischenzeitlich sämtliche elektronischen Geräte abgeben mussten, sogar den Tablet, den Todenhöfer ausschließlich zum Schreiben dabei hatte. Auch filmen durften sie nur sehr eingeschränkt, und ihr gesamtes Filmmaterial wurde am Ende vom IS zensiert. Vor diesem Hintergrund liest sich die Reiseskizze erstaunlich präzise und im Übrigen spannend wie ein Thriller.

Todenhöfer ist Christ und Islamkenner. Er spricht mit hoher Wertschätzung von dieser Religion und ihrem Propheten. So scheut er sich auch nicht, seine Gesprächspartner im IS immer wieder mit den Widersprüchen zu konfrontieren, in denen ihre Ideologie zur islamischen Lehre steht. Sie sehen das freilich anders.
Am Ende des Buches steht sein nach der Reise verfasster Brief an den Kalifen des "Islamischen Staates", Abu Bakt Al Baghdadi. Ich habe selten etwas Mutigeres gelesen.

Ein absolut notwendiges Buch. Christen und Muslime sollten es unbedingt lesen!