Rezension

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Traumatisiert auf Hiddensee

Kruso - Lutz Seiler

Kruso
von Lutz Seiler

Bewertet mit 5 Sternen

Um diesen Roman angemessen zu besprechen, muss ich durchaus tiefer auf seinen Inhalt eingehen! Seit langem habe ich keinen Roman mehr gelesen, der mich so beschäftigt hat und über den ich so lange nachgesonnen habe. Am Anfang kam ich überhaupt nicht klar, denn Sätze von erlesener Schönheit wechseln ab mit solchen, die mir auch am Ende der Lektüre noch völlig verschlossen bleiben und so geht es mir ein wenig wie Edgar Bendler selbst, einem der beiden Hauptprotagonisten, „der auf- und abtauchte im Fahrwasser des Geschehens und dem Sinn der Dinge hinterherlauschen mußte, ihre Bedeutung aber nicht ...zu fassen bekam.“

Aber beginnen wir von vorne: Als Germanistikstudent schwebt Edgar Bendler häufig in anderen Sphären, denkt philosophische und hehre Gedanken, ist angefüllt mit Worten, Dramen, Gedichten, den Klängen der Schriftsteller aller Zeiten, seine „(Hirn)-Füllung“ erinnert an ein Gedicht von Gottfried Benn, wo es heisst: „Du füllst mich an wie Blut die frische Wunde“; und so ist Edgar gefüllt mit Poesie und der schönen Literatur, allerdings durch die systemimanente Interpretation seiner Professoren eingegrenzt und beengt, der er sich jedoch widerspruchsfrei unterwirft. Die Bereitschaft zur Unterwerfung ist ein Teil seines Charakters, das wird sich auch später erweisen, auf der Insel, in der Begegnung mit Aljoscha Kruso, einem „Robinson Crusoe“, einem Gestrandeten. Edgar ist also der Musterstudent per se, eine Freude seiner Alma mater, auf dem große Hoffnungen ruhen. Im Alltäglichen ist er durch die Liebe zu seiner Freundin verortet, auch diese füllt ihn an wie Blut die frische Wunde.

Wen wunderts, dass sein Gehirn sich erhitzt und übersiedet, als er sie nach einem Unfall unvorbereitet zu Gesicht bekommt, zerquetscht, der Oberkörper unter der Tram, die unversehrten nackten Beine ragen in die Straße ausserhalb der Schienen, der Rock hochgerutscht, Passanten zupfen ihn pietätvoll zurecht. Tag und Nacht verfolgt ihn die Unfallsequenz, vermischt sich mit all den Worten klagender und liebender Dichter und Denker, die jedoch plötzlich keinen schönen Sinn mehr ergeben, sondern leer und hohl tönen. Der Verlust ist unerträglich, unbegreiflich, unannehmbar. Er will weitermachen, aber er kann es nicht. G., er denkt nur noch an sie als G., wie sie da liegt, ihren Namen vermag er nicht durchzubuchstabieren, er muß sich distanzieren und will sich ihrer gleichzeitig vergegenwärtigen; da ist noch das Tier, etwas lebt noch von dem, was zu ihr gehörte, Matthew, der Kater, den G. als Baby ausgesetzt fand und ins Leben päppelte. Edgar wird gestützt durch dessen Dasein, aber ...auch Matthew ist eines Tages weg, überfahren? Gestohlen? Gequält?

Die Finsternis des Verlusts stürzt vollends über Edgar zusammen. Seine Sicherungen brennen durch. Er geht. Nirgendwohin. Er hat kein Ziel. Er verlässt sich. „Nicht gesprungen“, ist eines der Schlüsselworte des Romans.

Da Edgar nicht gesprungen ist, kommt er an. Er kommt an am Ende der Welt, er gelangt irgendwie nach Hiddensee. Näher an eine Lebens-Grenze heran geht nicht, wenn man nicht den letzten Sprung über den Abgrund tut. Er hat keine Erlaubnis. Er ist nicht würdig. Diese Unwürdigkeit ist wieder ein Schlüsselwort. Ein religiöses Motiv, eines von vielen, die im Roman stecken, ein wenig verklausuliert. Im Roman heisst es, er erfülle „die unausgesprochenen Voraussetzungen“ nicht. Mit dieser Wortwahl könnte Lutz Seiler allerdings auch auf Franz Kafkas Prozeß anspielen, auf die sogenannte Torwächterparabel. Welche Voraussetzungen das sein sollen, darüber kann man nur mutmaßen, ebenso wie Edgar selbst: Vertrauenswürdigkeit, Loyalität, Stabilität, Verlässlichkeit, Diskretion? Dass es darum gehen könnte, wird unterstützt durch einen späteren Versuch der Staatssicherheit, ihn als IM anzuwerben. Genau so gut könnte aber auch gemeint sein, dass Edgar, dadurch, dass er dabei ist, sein Studium zu schmeissen, kurz vor der Promotion übrigens, dem System und seinen Ansprüchen nicht mehr gerecht werden kann. Rein bürokratisch hat er weder einen Meldeschein für die Insel noch ein Gesundheitszeugnis, um in der Gastronomie arbeiten zu dürfen und insofern tatsächlich nicht die erforderlichen Voraussetzungen.

Angekommen auf Hiddensee, findet der verstörte Edgar einen ersten Freund, das Tiergerippe eines Fuchses, halb vergraben in einer Grube. In dessen leere Augenhöhlen stöhnt, seufzt, schreit und flüstert Edgar seine Seelenpein, die konspirativen und homoerotischen Gedanken dieses Sommers. Im Klausner wird er von Werner Krombach, dem Leiter dieses Betriebsferienheims (mit Beköstigung und angeschlossenem öffentlichen Gasthaus), in die Mannschaft des Gaststättenbetriebes aufgenommen. Als Saisonkraft. Krombach ist wiederum eine, auf seine einzigartige Weise gescheiterte Existenz, ein versponnener Typ, der die Organisation des Hauses für eigene, ökonomisch einträgliche Geschäfte nutzt. Das Schiff, die Mannschaft, sind weitere symbolträchtige Schlüsselbegriffe. Die Betriebscrew, um im Bild zu bleiben, legt für Edgar und den Leser verwirrende und verstörende Verhaltensweisen an den Tag und auch an die Nacht.

Es laufen parallel zwei Bühnenbilder bei mir ab: einerseits das eines stinknormalen Gaststättenbetriebs, Hektik in den Stoßzeiten, Überstunden, schlechte Bezahlung, miese Arbeitsbedingungen, schlechte Luft, die Mitarbeiter gesundheitsschädlichen Chemikalien ausgesetzt, völlige Erschöpfung nach vollbrachtem Tagwerk, schwarzer Humor der Belegschaft, der sich stur dumpfer Verzweiflung entgegenstemmt. Andererseits die verrückten Impressionen Edgars, seiner Sinne noch nicht wieder ganz mächtig, scheinbar oder nicht scheinbare surrealistische Rituale, die entschlüsselt werden müssen.

Die Mannschaft gibt sich zunächst unnahbar, die Leute sind nicht die einfachen Statisten, die sie vorgeben zu sein, die Kellner sind verkappte Philosophen, Umstürzler, Aufständler, auf alle Fälle Freidenker. Testosteron schwängert die Luft, Gewalt und Verführung allerorten, Konspiration, Verrat, Konkurrenz, Erotik und das grosse Fressen. Alles verbindet sich im Suff zu einem undurchschaubaren organischen ekelhaften Klumpen, symbolisiert im sogenannten Lurch, einem männerarmdicken Schleimpropfen, der im Abflußrohr des Abwäschers steckt und alles verstopft. Im Abwasch ist Edgar zuhause und frisst jeden Tag eine rohe Zwiebel mit einem Stück Mischbrot, das ihm die Crew zusteckt. Häutet er sich? Ganz ohne jeden Zweifel, Edgar häutet sich, wird vom Intellektuellen zum Ahnenden, vom Durchschauenden zum Empfindenden, vom Wissenden zum Glaubenden.

Das Nacktbaden am Kellnerstrand erscheint noch „normal“, der buddhistische Baum ein Gag, die Waschungen, die Zentralvergabe, die pseudomilitärische Organisation Krusos, des Gegenhelden, Blutsbrüderschaft und raue Zärtlichkeit, surreal.

Am „Tag der Insel“ kommt es zum Crash. Edgar wird in einem Kampf auf Leben und Tod schwer verletzt und am Ende ist einer tot. Kruso wird verhaftet. Kruso ist der Drahtzieher auf der Insel. Er unterstützt Edgar im Abwasch, im Hintergrund der Kulissen schuften die beiden wie Kulis, der Autor, der Tellerwäscher auf Hiddensee gewesen ist, entwirft gastronomisch unappetitliche Szenen. Und Tag und Nacht plärrt das unabschaltbare Radio, liebevoll „Viola“ genannt. Die neuesten Nachrichten: Grenzüberschreitungen in Ungarn... . Dass wesentliche politische Veränderungen in der Luft liegen könnten, wird nicht wahrgenommen. Der Arbeitstag ist extrem belastend und die Nächte sexuell herausfordernd. Ed kommt mit den wechselnden Frauen, die die zentrale Vergabe in sein Bett legt, nicht klar. Auch der Leser seufzt. Was soll das nun wieder? Schiffbrüchige auf der Insel? Kann das sein? Was sollen diese Heimlichkeiten? Wieso schlafen die Frauen freiwillig mit jedem, dem Kruso sie zuweist? Das Motiv des Schiffbruchs und der damit verbundenen Notwendigkeit, irgendwie Land zu gewinnen (Westen) ist das offensichtliche und zentrale Motiv des Romans, seine Mitte, sein Herz.

Die sogenannte „Zentrale Vergabe“ ist Krusos Lebensinhalt. Er hat sich auf der Insel eine Position errungen und kämpft auf seine abgedrehte Weise für Freiheit, die er allerdings woanders sucht als die Ausreiseantragsteller und Republikmüden. Kruso ist krank, gebrochen. Seine Mutter, Akrobatin, hat sich vor seinen Augen in den Tod stürzen müssen, ihr Tod vom duckenden und geduckten Vater billigend in Kauf genommen. Das Bild der Seiltänzerin eine Metapher auf den schwankenden sozialistischen Untergrund, wer die Balance verliert, erlebt den durchaus irdischen Tod? Krusos Schwester ist auf mysteriösere Weise ums Leben gekommen, ein weiteres unbewältigtes Trauma in Krusos Leben. Oder es war gar kein Mysterium und sie hat versucht schwimmend auf die benachbarte dänische Insel Møn zu gelangen und ist dabei ertrunken. Sie war eine sehr gute Schwimmerin, betont Kruso Ed gegenüber mehrmals. Ist Kruso ein Russe? Sein Vater ist jedenfalls eine Art General. Oder hat sich so benommen als ob er einer wäre. Vom ihm hat Sohn sich abgeschaut, wie man Macht errichtet und ausübt, subtil und weniger subtil. Kruso und Edgar ergänzen sich in ihrer psychischen Gebrochenheit. Edgar ist Kruso ergeben wie ein Hund und Kruso braucht Gefolgschaft und Bestätigung, damit seine Illusionswelt Lebendigkeit erhält. Leute, die wie Edgar ohne Aufenthaltsberechtigung auf die Insel kommen, werden von ihm und der Mannschaft versteckt und mit DER SUPPE, einer ebenso erfindungsreichen wie ekelhaften Angelegenheit, verköstigt. Kost und Logis vergibt also Kruso und gesundet stückweise, bestärkt in seinen Allmachtphantasien. Bis die Ratten das sinkende Schiff verlassen ...

Die Radiobotschaften haben nämlich durchaus Gehör gefunden, eine Saisonkraft nach der anderen verschwindet aus dem Klausner bis nur noch Werner Krombach, Edgar und Kruso übrig sind. Und Krombach wird abkommandiert, soll Rechenschaft ablegen vor irgendeiner Obrigkeit. Am letzten gemeinsamen Abend vollkommen besoffen grölen alle drei Männer sentimentale Shanties „Draußen an der Mole schauten sie aufs weite Meer, draußen an der Mole warn die Herzen sehnsuchtsschwer, draußen an der Mole  wo der alte Leuchtturm steht..." spielen also neckisch und kindisch das Stück: „Als ob Nichts gewesen wäre“ oder „Was kann einen Seemann schon erschüttern?“, verleihen aber auch gleichzeitig in unverdächtiger Weise ihrer Sehnsucht nach etwas für sie Unerreichbarem Ausdruck: Draußen!!

Edgar hat die letzte Frist versäumt, innerhalb derer er die Insel noch hätte verlassen, sein Fernbleiben von der Uni mit einer fadenscheinigen Erklärung versehen und an sein altes Leben hätte anknüpfen können, nun ist er allein mit Kruso, doch die beiden können sich nicht geschlagen geben: Das Schiff (also das Gasthaus) ist unsinkbar, Widerstand bis zum letzten Blutstropfen gegen den Feind (die Umstände), beide gefangen in ihrer jeweiligen schizophrenen Welt, immun gegen die Wirklichkeit, eine labile Konstellation, die so oder so nicht gut gehen kann, man nähert sich indessen dem 9. November, doch Viola, die einzige Informationsquelle, ist verstummt.

Steht das nun alles da oder habe ich das Meiste in den Roman hineingelesen? Lutz Seiler, so hat man mir berichtet, spricht auf seinen Lesungen von dem Roman einer Männerfreundschaft. Aber auf so eine einfache Formel gebracht kann ich es nicht sehen. Es ist die Geschichte zweier kranker Seelen, die nicht heilenwollen können. Es ist ein Roman, dessen Grundton Wärme vermittelnd, etwas auslotet, das vielleicht nicht ausgelotet werden will oder kann und von daher manche Wunderlichkeiten aufweist: Freiheit und Abhängigkeit(en), beide, haben viele Spielarten.

Fazit: Lutz Seilers Roman „Kruso“ ist auf alle Fälle einmal anders. Und vielschichtig. Das allein ist schon wohltuend inmitten all des Einheitsbreis, der so geschrieben wird. Er ist wie ein französischer Film, der spätnachts auf Arte läuft und nur wenige, kopfschüttelnde Zuschauer findet, nur da und dort wird einer nicken und sagen: „Ja, so isses. Ganz genau so war es. Ganz genau so“.

Kategorie: Gehobene Literatur; Suhrkamp Verlag, 2014

Kommentare

Sommerzauber02 kommentierte am 11. November 2014 um 10:59

Eine tolle Rezension mit vielen Facetten aus dem Roman. Man merkt beim Lesen deiner Rezension, dass der Roman keine leichte Kost ist; und eventuell zweimal lesen muss.

wandagreen kommentierte am 11. November 2014 um 12:52

Danke, Nadine! Ja, ich habe eine Weile gebraucht ... eine Weile, um hineinzukommen, ... eine Weile, um nachzudenken, ... eine Weile, um einen Sinn zu entdecken und eine Weile, um mir klar zu werden, wie ich das Ganze bewerte ... und wiederum eine Weile, um zu wissen, warum.

Arbutus kommentierte am 11. November 2014 um 22:55

Das ist das erste Mal, dass ich neugierig genug war, eine gespoilerte Rezension zu lesen.

Gruselig. Ich fürchte, ich werde das Buch nicht lesen, denn die Lektüre würde mir möglicherweise nicht guttun.

Finde aber die Rezension wirklich klasse. Danke, so was liest man hier wirklich selten.

marsupij kommentierte am 20. Dezember 2014 um 18:48

Wow, eine lange Rezension. Und ich habe nur das Fettgedruckte am Anfang gelesen, weil das Buch hier noch auf mich wartet. Aber bei 5 Sternen bin ich gespannt. Mal schauen, wann ich mich an die Lektüre heranwage.