Rezension

... und Berlin sind viele Dörfer.

Steglitz -

Steglitz
von Inès Bayard

Bewertet mit 5 Sternen

Steglitz ist eines davon! Die Schloßstraße vom Kreisel bis zum Walther-Schreiber-Platz bildet dabei mit seinen Banken, Bekleidungs- und Lebensmitelgeschäften die Hauptschlagader dieses kleinen Kosmos. Von ihr abzweigend findet man dann die Kneipen und kleineren Läden, die sich wie immer dünner werdende Wurzeln in die Wohnviertel verzweigen. Wer mag, brauch sich nicht aus seinem Karree hinausbegeben, es ist alles vor Ort.

So lernen wir Leni Müller kennen. Eine Ehefrau und Haushälterin wie sie im Buche steht. Sie hat sich voll und ganz dem Leben mit ihrem Mann Ivan, dem Stararchitekten, untergeordnet. Minutiös erledigt sie alle Handgriffe, die ihrem Gespons das feierabendliche Heimkommen perfekt machen sollen. Anspruchslos, ja eigentlich mechanisch, lässt sie auch dessen sexuelles Verlangen über sich ergehen. Ihr Dasein beschränkt sich dabei auf das Haus und die immer gleichen Wege auf der Schloßstraße für die Besorgungen des frischen Essens. Leni scheint eine wenig sympathische, einfältige Person zu sein.

Das Mitleid hält sich dann beim Lesen auch in Grenzen, als ihr Mann verkündet, dass er allein für ein paar Tage nach Rügen verreisen muss und Leni plötzlich ihren Lebensmittelpunkt verliert. Fast hilflos wirkt sie bei ihrer täglichen Besorgungen, versteht nicht, warum sie plötzlich der Kioskverkäufer anbrüllt. Reicht es nicht, dass vor ein paar Tagen der Polizist Ziegler aufgetaucht ist, um sie nach nächtlichen Schüssen im Park zu befragen? Jetzt scheint er ihr aufzulauern, sie zu observieren. Doch statt des erwarteten Ehemannes, steht plötzlich ihr Bruder Emile vor der Tür, der ihr mitteilt, dass sie ausziehen soll, weil ihr Mann mit einer anderen Frau in die gemeinsame Wohnung zurückkehren möchte.

Willenlos lässt sie sich von Emile mitnehmen und unweit der bekannten Umgebung in einer Wohnung über einer Bar einquartieren. Fast traumwandlerisch erledigt sie dort die ihr zugewiesenen Aufgaben und scheint nur froh zu sein, dass sie immer noch in ihrer Welt, in Steglitz ist.

Anfänglich verstört dieser 190 Seiten dünne Roman mit seiner fast leblosen Hauptfigur und deren beunruhigenden Begegnungen mit ihrer Mutter im Retsaurant und ihrem Vater im Park, der aber scheinbar erschossen wird. Das etwas nicht stimmt, ahnt der Leser bereits, als Leni eigentlich einen Arzttermin wahrnehmen soll, zu dem es nicht kommt. Die Menschen in Lenis Umgebung legen merkwürdiges Verhalten an den Tag. Sämtlich Männer, einschließlich des Kommissars, treiben Leni in ihrem Handeln und Denken.

Erst im letzten Drittel kommt die (Er-)Lösung. Sowohl ihr Bruder, als auch der Kommissar erzählen eine Geschichte, die Licht ins Dunkel einer zutiefst traumatisierten Frau geben, deren psychotischer Schub durch sie ausgelöst und weidlich ausgenutzt wurde. Das Steglitzer Staßennetz, oft erwähnt und aufgezählt, mag den nicht Ortskundigen ermüden und langweilen, könnte stellvertretend aber auch die engen Grenzen beschreiben, in denen Personen wie unsere Protagonistin gefangen sind und allein keinen Ausweg finden. Für Außenstehende ein Bezirk wie viele andere, für Betroffene eine Zelle (und doch gewohnter Lebensraum) mit toten und lebenden Wächtern an den Ausgängen.

Gewöhnungsbedürftig, aber effektiv wirkt die die Sprache, von Theresa Benkert aus dem Französischen übersetzt, stringent und irritierend klar. Die Neugier überwiegt bald den Ärger über den Phelgmatismus und den Dahintreiben Lenis. Fast genauso willenlos wie unsere Hauptfigur, lassen wir uns in den Straßen herumführen, bis uns dann die Wirklichkeit quasi aus dem Buch schüttelt, erstaunt darüber, dass nichts so ist wie es scheint.

Das Buch erschien beim Zsolnay Verlag.

Kommentare

wandagreen kommentierte am 25. Oktober 2023 um 18:16

Dieser Dorfcharakter mag es sein, dass ich unsere Hauptstadt nicht so schätze. Deine Rezi ist klasse! Eine Meinungsänderung um 180 Grad?

Emswashed kommentierte am 25. Oktober 2023 um 22:22

Höchstens 90 Grad. Geholfen hat auch die Folgelektüre.