Rezension

Von der Mutter verkauft

The Girls I've Been -

The Girls I've Been
von Tess Sharpe

Bewertet mit 3 Sternen

In jedem Menschen steckt eine gute und eine schlechte Seite. Bei den meisten Menschen ist eher die gute Seite ausgeprägt, bei einem kleineren Anteil der Erdenbürger übernimmt wohl vor allem die schlechte Seite. Wie schockierend böse diese schlechte Seite sein kann, zeigt Tess Sharpe in ihrem Roman über die junge Nora. Noch nicht mal volljährig kann das Mädchen bereits auf eine steile Karriere als Trickbetrügerin zurückblicken, der sie im zarten Alter von 12 Jahren den Rücken gekehrt hat. Seitdem versucht sie ein normales Leben zu führen, doch bei einem stinknormalen Termin in der Bank gerät Nora mit ihren Freunden Wes und Iris in einen Banküberfall, der schrecklich aus dem Ruder läuft und Noras trickreiche Fähigkeiten zurück auf den Plan rufen.

Durch zahlreiche Rückblenden enthüllt Nora während des Banküberfalls ihre Vorgeschichte, die sie an diesen Punkt der Geschichte brachte. Seit ihrem sechsten Lebensjahr von der eigenen Mutter „ausgebildet“ ist es Nora zur zweiten Natur geworden, den Männern bzw. den Zielobjekten im Leben ihrer Mutter genau das Mädchen vorzuspielen, dass diese in ihr sehen sollten. Noras Mutter hat sich vor allem die bösen Jungs für ihre Gaunereien ausgesucht. Die, die nicht zur Polizei gehen können, weil das ergaunerte Geld nicht auf legalem Wege erworben wurde. Alles Männer mit Dreck am Stecken und weit entfernt davon, umgängliche Typen zu sein. Was geht in einer Mutter vor, die ihre kleine Tochter an solche Kerle verkauft? Noras große Schwester Lee ging durch dieselbe Hölle wie Nora, vielleicht sogar durch eine noch schlimmere, denn die Mutter war nicht immer rechtzeitig da, wenn aus den netten Familienvätern plötzlich die dunkle Seite herausbrach.

In der Bank hilft Noras Vergangenheit ihr, die aktuelle Situation zu analysieren und einen Plan zu entwickeln, der ihre Lieblingsmenschen am Leben erhalten soll. Die Ausnahmesituation bringt sie aber auch dazu, sich erneut mit den Mädchen auseinanderzusetzen, die sie für die Masche ihrer Mutter zu verkörpern hatte.

So schrecklich und unglaublich Tess Sharpes Geschichte über Nora und ihre Familie ist, so spannend und unterhaltsam ist sie erzählt. Noras Gegenwart steht im Mittelpunkt und in dieser ist sie eigentlich ein normaler Teenager, der die erste Liebe erlebt, die erste Trennung, beste Freunde findet und eine echte Familie. Die Vergangenheit ist ein Teil von ihr, die eine Zeitlang verdrängt nur ihren Tribut fordert. Stück für Stück enthüllt sich Noras Werdegang und erst am Ende wird das ganze Ausmaß des Missbrauchs deutlich. So wenig ich mir Menschen wie Noras Mutter, Wes Vater oder das Monster, das Nora ins Gefängnis brachte, in meinem Leben vorstellen kann, so glaubhaft finde ich dennoch die Figuren. Natürlich mit Abstrichen, denn aufgrund der vielen Superlative bin ich sehr gewahr, dass ich eine fiktive Geschichte lese. Das ist ein wenig so, wie „Stirb langsam 1-4“ zu gucken. Man ist bestens unterhalten, wünscht Bruce Willis den Sieg über alle Bösewichte und kann sich dennoch schwer vorstellen, dass sowohl guter Cop als auch böser Gangster in dieser Form existiert.