Rezension

Von einer, die auszog, sich selbst neu zu entdecken

Wenn ich die Augen schließe
von Ava Reed

Hektik, Eile, schnell die Schuhe anziehen, Mütze aufziehen, Rucksack auf den Rücken, die Tür hinter mir zuziehen und abschließen, loslaufen, sonst verpasse ich den Zug – ach Mist, ich habe meine Maske vergessen. Ich hasse es, Dinge zu vergessen, mich nicht mehr an etwas erinnern können, die Makel menschlichen Erinnerungsvermögens so unter die Nase gerieben zu bekommen. Stell dir aber mal vor, dir fehlen schwerwiegendere Erinnerungen: beispielsweise, wie du dich in bestimmten Momenten gefühlt hast? Wer bist du, wenn sich die eigenen Emotionen fremd anfühlen?

Erinnerungslücken aufholen, sich selbst hinterfragen
Protagonistin Norah muss sich genau mit diesen Problemen herumschlagen. Nach einem schweren Autounfall mit Alkohol hinter dem Steuer wacht sie schwerverletzt im Krankenhaus auf; ihr Genesungsprozess ist langsam, ja schwerfällig. Sie stellt eine "Ausprobierliste" auf, um jede ihr fehlende Empfindung nachzuholen und sich selbst besser kennenzulernen. 

Dieses grundlegende Szenario trägt so viel Potenzial in sich: Norah versucht, Erinnerungslücken aufzuholen, sich und eigene Entscheidungen zu hinterfragen, das eigene Umfeld aus einer völlig neuen Perspektive zu sehen. Den Leser:innen wird ein detaillierter Einblick in die innere Handlung der Protagonistin gewährt. Sie fühlt sich fremd in ihrem eigenen Körper, in ihrer vertrauten Umgebung – ein Umstand, der für uns nur schwer greifbar ist. 

Plot bietet nur wenige Überraschungen 
Ava Reeds Schreibstil ist flüssig zu lesen; recht schnell fühlte ich mich in das Szenario involviert. Teilweise störten mich jedoch einzelne, kindlich klingende Formulierungen, die durch ihren plumpen Ausdruck aus dem sonstigen Korsett hinausfielen. 

Leider entwickelt sich die Handlung genau so, wie ich es nach dem ersten Kapitel bereitserwartete. Man erwartet eine überraschende Wendung, die aus gewohnten Wegen herausbricht – vergeblich. Norahs Gegenpart ist der schmächtige, unscheinbare Sam, aus dessen Sicht ebenfalls einige Kapitel erzählt werden. Seine Ängste und Erwartungen sind für meinen Geschmack etwas zu oberflächlich ausgearbeitet; hier merkt man zu deutlich, dass der Fokus des Romans auf Norah liegt. 

Erkenntnisse kalenderspruchreif aufgebauscht 
Viele weitere Nebenfiguren scheinen hinter ihrer Funktion für das Szenario unterzugehen: Da gibt es den wenig sympathischen, gut aussehenden Freund, die oberflächliche beste Freundin und die ehrfürchtige kleine Schwester. Ein bisschen mehr Fingerspitzengefühl für den Entwurf dieser Charaktere hätte mehr Abwechslungsreichtum in die Geschichte gebracht. Hier finden wir nun ein ziemlich offensichtliches Gegenspiel zwischen den bösen Mobber:innen und Opfern. Dies hätte um einiges raffinierter und weniger plakativ erzählt werden können. 

Norah kommt im Laufe des Buchs zu vielen neuen Erkenntnissen und hinterfragt eigene Handlungsweisen selbstkritisch. Diese werden zu ganzen Mutmacher-Passagen aufgebauscht, die so wirken, als seien ein schmieriger Kalenderspruch per Copy & Paste eingefügt worden. Dass sie innerhalb so kurzer Zeit zu solch einer umfassenden Selbstreflexion fähig ist, wirkt unglaubwürdig. 

Ernster Umgang mit Mobbing und Selbstzweifeln
Nichtsdestotrotz weiß das Engagement der Autorin wertzuschätzen, ihr großes Lesepublikum für so ernste und wichtige Thematiken zu nutzen. Sie wählt behutsame Worte, um ihren Leser:innen zu zeigen, das sie es wert sind, so zu sein, wie sie sind und sich nicht für das Umfeld zu verbiegen. Sie zeigt, wie schmerzhaft Worte und weitere kleine Erniedrigungen im Alltag sein und welche Selbstzweifel sie auslösen können, ohne allzu drastisch und überzogen zu wirken. Das ist die große Stärke der vorliegenden Lektüre. 

«Wenn ich die Augen schließe» zeigt anrührend den Wert des Sichtreubleibens. In dem interessanten Szenario wäre insgesamt viel mehr Potenzial gewesen.