Rezension

Was für eine große, was für eine wichtige Geschichte!

Der Junge auf dem Berg
von John Boyne

Bewertet mit 5 Sternen

Es ist eigentlich ein kleiner Skandal, dass ich euch noch nie ein Buch von John Boyne vorgestellt habe - denn seit Der Junge im gestreiften Pyjama gehört der irische Schriftsteller zu meinen absoluten Lieblingsautoren. Ich liebe ihn vor allem für seine Gabe, das Unvorstellbare in Worte zu fassen (wer Der Junge im gestreiften Pyjama kennt, weiß wovon ich rede). Und genau diese Fähigkeit kennzeichnet auch seinen neuesten Roman Der Junge auf dem Berg. Wieder geht es um einen Jungen, wieder geht es um den Nationalsozialismus - diesmal aber zeigt Boyne dem Leser auf ebenso eindrucksvolle wie schmerzhafte Weise, wie zerbrechlich und anfällig die unschuldige Seele eines Kindes ist.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht der kleine Pierrot - ein kluger und aufgeweckter Junge, den man schon nach den ersten Seiten lieb gewinnt. Pierrot wächst als Sohn eines deutschen Ex-Soldaten und einer Französin in Paris auf, hat einen besten Freund namens Anshel, einen treuen Hund und eine große Fantasie. Als er sieben Jahre alt ist, gerät Pierrots kleine glückliche Welt das erste Mal aus den Fugen, denn nach dem tragischen Tod seines Vaters, der die Schrecken des Ersten Weltkrieges nie verwunden hat, verliert er auch seine Mutter. Er kommt in ein Waisenhaus und muss Anshel, seinen geliebten Hund und seine Heimat Paris hinter sich lassen. Mir hat es beim Lesen fast das Herz gebrochen, denn Pierrot wirkt so verloren, so hilflos und irgendwie auch entwurzelt.

Noch deutlicher zeigt sich das, als er wenig später von seiner Tante aus Deutschland adoptiert wird - allein nimmt er die lange Zugfahrt von Frankreich bis nach Berchtesgaden auf sich und wird hineingeworfen in eine ihm völlig fremde Welt. Man spürt überdeutlich, dass Pierrot sich zunehmend selbst verliert und keine Ahnung hat, wer er eigentlich ist oder sein soll. Umso mehr, als seine Tante ihm einschärft, dass er sich fortan nicht mehr als Franzosen bezeichnen darf und seinen französischen Namen Pierrot gegen die deutsche Variante Peter eintauschen soll. Pierrot ist mit seinen 8 Jahren so jung und unschuldig, dass er gar nicht begreift, wieso er das tun soll. Oder wieso es auf einmal ein Problem ist, dass sein bester Freund Anshel Jude ist. Wieso er ihn niemals wieder erwähnen, wieso er ihm keine Briefe mehr schreiben soll.

Aber Pierrot tut, was man ihm sagt, denn er sehnt sich so sehr nach Liebe, Anerkennung und Freundschaft - es zerreißt einem schier das Herz. Und dann kommt der Wendepunkt, denn Pierrots Tante ist Haushälterin und sie führt nicht irgendeinen Haushalt - sie führt den Berghof, die Sommerresidenz des Führers auf dem Obersalzberg. Die Begegnung zwischen Adolf Hitler und Pierrot ist unvermeidlich und als es soweit kommt, hält man beim Lesen gespannt den Atem an. Was dann passiert, ist kaum zu fassen und dabei doch so erschreckend authentisch und echt. Hitler nämlich ist für Pierrot schnell das, was einer Vaterfigur am nächsten kommt. Er ist ein Vorbild, ein Mann in Uniform, vor dem man Respekt hat und dem man treu dienen kann. Etwas, in dem Pierrot voll aufgeht, denn endlich fühlt er sich wichtig, endlich hat er wieder eine Identität - die des stolzen deutschen Buben. Die des braven Mitglieds der Hitlerjugend.

Die nationalsozialistische Gesinnung, mit der Pierrot fortan jeden Tag konfrontiert wird, dringt ihm in jede Pore und verändert sein Wesen von Grund auf. Dieser Prozess ist so eindringlich dargestellt, dass einem glatt die Luft wegbleibt. John Boyne zeigt, wie einfach es ist, den Geist eines unschuldigen Kindes zu vergiften und es zum strammen Nazi zu erziehen. Das spielt nicht nur im historischen Kontext eine Rolle, sondern auch und vor allem im Hinblick auf den weltweiten Rechtsruck, den wir aktuell erleben. Was aus Pierrot wird - wie er zuerst seinen ehemals besten Freund Anshel verleugnet, wie er sich selbst als die Krone der Schöpfung, als den Herrenmenschen begreift, wie er den Krieg als neue Chance für Deutschland und für "sein" Volk feiert, wie er als verlorene Seele in seiner neuen Identität als folgsamer Deutscher aufgeht... gewaltig, unglaublich schmerzhaft, entsetzlich, authentisch und dabei einfach sensationell. John Boyne erzählt auch mit Der Junge auf dem Berg wieder eine Parabel von einem kleinen Jungen in Kriegszeiten, die uns auf eindringliche und dabei so schmerzhafte Weise dazu bringt, hinzuschauen und uns zu fragen - was hätten wir wohl getan? Was wäre aus uns geworden? Denn wenn der kleine Pierrot empfänglich ist für diese Art der "Gehirnwäsche" - sind wir es dann nicht alle?

Mein Fazit:
Was für ein phänomenales, wichtiges und großes Buch! John Boyne bringt uns auch mit Der Junge auf dem Berg wieder zum Nachdenken, er bildet ab, wie aus einem unschuldigen Jungen ein Faschist wird - wie einfach es ist, sich selbst zu vergessen, wenn man alles verloren hat. Mich hat diese Geschichte tief erschrocken und verstört, denn sie trägt so viel Wahrheit in sich. Ein unglaubliches Werk, dass definitiv das Zeug zum modernen Klassiker hat!