Rezension

Witz und Sachkenntnis zeichnen Gysi aus.

Ein Leben ist zu wenig - Gregor Gysi

Ein Leben ist zu wenig
von Gregor Gysi

Bewertet mit 4.5 Sternen

Vergebens ist die Mühe, aus diesem Buch, Widersprüche und Unwahrheiten herauslesen zu wollen. Schnell wurde ich vereinnahmt vom Witz und Spitzbubentum dieses Anwalts, Politikers und brillanten Redners in Sitzungen, Parlamenten und Talkshows.
Gysi, Sprößling eines Kulturministers und Botschafters der DDR und Wurzeln mütterlicherseits zum russischen Hochadel, sehnte sich nach dem Beruf des Anwalts und erreichte dieses Ziel auch mit einigen Tricks und Kniffen. Bald schon führte er seinen Staat vor, indem er ihnen Fehler und Ungenauigkeiten in ihren Gesetzestexten aufzeigte. Mit der Wende dann, wurde Gysi regelrecht in die politische Schiene gedrängt, was sich bald als Glücksgriff für die SED heraustellte. Um Abstand zum alten DDR-Regime zu bekommen wurde die Partei erst in PDS umbenannt und nach anhaltenden Anfeindungen mauserte sie sich schließlich zur Linken-Partei, die bis heute zwar ein ordentliches Gegengewicht zum Rechten Flügel bildet, aber, mit dem Rückzug dieses charismatischen Mannes aus der Führungsspitze, an Überzeugungskraft verloren hat.
Ich las dieses Buch sehr gern und mit manchem Aha-Ausruf. Die Wende habe ich als frischgebackener Westberliner praktisch hautnah miterlebt, war aber mit meinen 20 Jahren weder sonderlich politisch interessiert, noch hatte ich Ostverwandtschaft, also keinerlei Erfahrung mit der politischen und wirtschaftlichen Lage "drüben". Ich habe aber sehr wohl mitbekommen, wie rasch der Westen nach dem Mauerfall den Osten überrannte. Die BRD schickte seine Leute, um den "Ossis" zu zeigen, wie man "richtig wirtschaftet". Verwundert war ich über die vielen DDR-Frauen, die alle ausgebildete Ingenieurinnen und Facharbeiterinnen waren, sich aber um Bürojobs im Westen der Stadt bewarben. Sie waren auch bereit für die Hälfte des üblichen Lohns zu arbeiten, zahlten sie doch gerade mal 40 Mark Miete für ihre Einraumwohnung am Prenzelberg... aber was lamentiere ich. Wir wissen alle wie sich die Wiedervereinigung entwickelt hat.
Interessant und sehr unterhaltsam war da Gysis Sicht der Dinge, gleichsam auf der erhöhten Plattform der Politik, aber auch als direkter Resonanzkörper für Verdächtigungen und Missgunst.
Gregor Gysi konzentriert sich auf die Ereignisse der Wende und die Entwicklung seiner Partei, spricht aber auch jüngste Begebenheiten (Syrienkrieg, Flüchtlingsströme) kurz an. Die von manchen bemängelte Kürze sehr persönlicher Angelegenheiten, scheint mir der Wahrung der Privatsphäre der ihm nahestehenden Personen geschuldet zu sein. Ein, zwei Nebensätze (er habe um eine Veröffentlichung gefragt) und seiner juristischen Ausbildung, schreibe ich diesen Umstand zu. (für Wanda)
Mein persönliches Highlite war die Erklärung für die, eigentlich ungültige, Deutsche Verfassung (S. 348 ff). Jahre zuvor hatte ich mit einem Nachbarn darüber diskutiert und konnte ihm nicht glauben, Gysi hats mir erklärt.

Kommentare

wandagreen kommentierte am 15. November 2019 um 18:12

Wir werden wohl Bücher immer verschieden lesen ;-). Wenn mir mal wieder eins unterkommt, das interessant ist, aber mich nicht ganz überzeugt - dann weiß ich, für wen das was ist. Eines aber muss man sagen: Gysi ist ein echt sympathischer Typ (ob mit Dreck am Stecken oder ohne) - und unglaublich schlagfertig und witzig.

Paperboat kommentierte am 08. Februar 2020 um 00:46

Sonst kein großer Biographienleser und schon gar nicht wirklich politikinteressiert, reizt mich dieses Buch ja doch auch...

Emswashed kommentierte am 08. Februar 2020 um 08:09

Politik, oder jüngste deutsche Geschichte, das ist hier die Frage. Im Anbetracht der Anfrage Nordkoreas in Deutschland, wie man eine Wiedervereinigung bewältigt, wirds schon fast kabarettistisch.