Rezension

Zeitkolorit pur

Haarmann - Dirk Kurbjuweit

Haarmann
von Dirk Kurbjuweit

Bewertet mit 4 Sternen

„Warte, warte nur ein Weilchen, dann kommt Haarmann auch zu dir…“ Ein makabrer Gassenhauer aus den 20er Jahren über einen spektakulären Kriminalfall, der die Stadt Hannover in Atem hielt.

Darum geht es hier. Es verschwinden auffallend viele Jungs 1923 in Hannover. Robert Lahnstein wird aus Bochum angefordert, um bei den Ermittlungen zu helfen. Zeugen berichten von merkwürdigen Vorkommnissen in Zusammenhang mit einem Fritz Haarmann. Warum wird das nicht untersucht? Lahnstein durchforstet die Homosexuellenszene Hannovers, kommt aber nicht so recht weiter.

 

Dirk Kurbjuweit erzählt uns, wie es gewesen sein könnte. In einer sehr eigenen aber auch sehr plastischen Sprache beschwört er die 20er Jahre herauf. Es ist schwül, finster, unheimlich, dekadent, manchmal auch grausam. Der Erste Weltkrieg  ist noch längst nicht überwunden. Lahnstein hat oft an finsteren Erinnerungen zu knacken. Ein hingeworfenes „Versailles“ ist eine gängige Erklärung für Missstände oder auch ein makabrer Witz.

Wir blicken in die unterschiedlichsten Köpfe, sehen die Welt mit Lahnsteins Augen, aber auch mal aus Haarmanns Sicht oder aus Sicht des Jungen, der ausgerissen ist und in Hannover umsteigen will. Ist er das nächste Opfer?

 

Dieses Buch ist Zeitkolorit pur, dichte Atmosphäre, ein authentisches Stück Geschichte und ein Mordfall, der ekelhafter nicht sein kann. Ein Pageturner ist es allerdings nicht, hier wird mehr ein historisches Ereignis innerhalb des Zeitgeschehens beleuchtet, als dass mit Spannungselementen gespielt würde. Ich fand das hoch interessant, kann aber verstehen, dass Krimifans vielleicht enttäuscht sind, ein typischer Krimi ist das nicht.

Ein bisschen zu kurz kam mir die Motivation des Ganzen. Haarmann bleibt der sadistische Irre aus dem Lied, warum er der wurde, der er war wird hier nicht gemutmaßt, obwohl man mit dem Auftreten seiner Schwester durchaus näher auf seine Kindheit hätte eingehen können. Aber vielleicht wollte der Autor auch einfach keine Entschuldigungen für einen bestialischen Serienmörder anbieten.

 

Ich habe dieses Buch sehr gerne gelesen und möchte es geschichtsinteressierten Lesern dringend empfehlen. Es ist ein eindrucksvoller Ausflug in ein finsteres Kapitel der Stadtgeschichte Hannovers und auch ein stimmiges Zeitportrait der 20er Jahre in Deutschland.