Rezension

Anti-Zauberberg

Ein Sommer in Niendorf -

Ein Sommer in Niendorf
von Heinz Strunk

Bewertet mit 4 Sternen

Anti-Zauberberg In Thomas Mann Roman "Der Zauberberg", der auch in Strunks Roman Erwähnung findet, fährt der Schiffsbauingenieur Hans Castorp nach Davos, um für drei Wochen seinen lungenkranken Cousin zu besuchen. Aus den drei Wochen werden dann sieben Jahre. In Heinz Strunks Roman „Ein Sommer in Niendorf“ fährt der Rechtsanwalt Dr. Roth (seinen Vornamen gibt der Erzähler nicht bekannt) nach Niendorf an der Ostsee, um dort die Zwischenzeit bis zum Antritt seiner neuen Stelle mit dem Schreiben eines Romans über seine Familie zu überbrücken. Auch er bleibt länger. Doch während Hans Castorp hochphilosophische Gespräche mit den Lungenkranken führt, steigt Dr. Roth immer weiter in die Niederungen des Alkoholismus und des Fast-Food-Essens herab. Heinz Strunk erweist dabei nach.seinem Roman „ Der goldene Handschuh“ erneut seine Meisterschaft darin, ausgesprochene (Pardon) Arschlöcher so darzustellen, dass sich die Leserschaft nicht über sie stellt, sondern eher an ihnen verzweifelt. Und ebenso wie im „Goldenen Handschuh“ zieht Strunk alle sprachlichen Register, um das Elend der Figuren darzustellen. Dazu ein Zitat aus dem Anfang des Romans, bei dem einer der Hauptfiguren, der Hausmeister und Depotbesitzer Breda vorgestellt wird: „Breda, Typ langer Lulatsch mit Plauze, strohiges Haar, pergamenthäutig, dünne Ärmchen und Beinchen, hat das Äußere eines Alkoholikers. Unter dem engen T-Shirt zeichnen sich ein halbes Dutzend Speckrollen und zwei auf den Sauf-Spitzbauch herabhängende Titten ab.“ Eigentlich unglaublich, dass der arrogante Schnösel Roth sich weiter mit dieser Person abgibt. Aber Strunk gelingt es, die Annäherung der beiden plausibel darzustellen. Und ebenso plausibel wird der Abstieg des Dr. Roth geschildert. Hier bietet sich eine weitere Parallele zu Thomas Mann an, jetzt zu dem Roman „Die Boodenbrooks- Verfall einer Familie“. Roth will in Niendorf einen Roman über seine Familie und auch deren Verfall schreiben. Allerdings gelingt es ihm nicht, den richtigen Ton zu finden, wovon einige Zitate in dem Roman Zeugnis ablegen. Strunk dagegen gelingt es, den Abstieg Roths nachvollziehbar und in einem unverkennbaren Ton darzustellen. Im Gegensatz zu den „Buddenbrooks“ kommt es allerdings zu einem Happy-End, das allerdings auch nicht ungebrochen bleibt. Das letzte Kapitel mit diesem vermeintlichen Happy-End ist überschrieben mit „Apokalypse now“. Wer den Schreibstil von Heinz Strunk mag und sich nicht vor der Darstellung ekliger Dinge scheut, der findet in dem Roman ein literarisches Vergnügen. Sensible sollten dagegen den Roman meiden. Zur Zeit der Abfassung der Rezension stand der Roman auf der longlist zum Deutschen Buchpreis 2022. Für mich schwer vorstellbar, dass angesichts der drastischen Sprache der Preis an Strunk verliehen wird. Das Spiel mit den beiden Roman von Thomas Mann dagegen spricht vehement dafür.