Rezension

Ausgeglincht

Ein Sommer in Niendorf -

Ein Sommer in Niendorf
von Heinz Strunk

Er reist im Maßanzug und mit Rimowa-Koffer an: Herr Dr. Roth, Jurist, der sich vor Antritt seiner nächsten Stelle eine dreimonatige Auszeit im kleinen Seebad Niendorf gönnen möchte. So ganz ohne Arbeit geht das allerdings bei ihm nicht, und daher schleppt er ein Tonbandgerät und 44 Tonbänder mit Interviews seines inzwischen verstorbenen Vaters mit, um ein Buch über die Geschichte seiner Familie und deren verlorener Firma zu schreiben. Vielleicht ist dieser Abstieg ja mit den Buddenbrooks zu vergleichen, und vielleicht wird das ja sogar ein Bestseller? An Selbstbewusstsein mangelt es Roth jedenfalls nicht. Überhaupt fühlt er sich allen überlegen und schaut mit Häme auf seine Mitmenschen hinab. Da ist zum Beispiel Breda, der Verwalter der Ferienwohung, der auch einen Spirituosenladen führt und Strandkörbe wartet - ein Alkoholiker und Versager, der sich Roth immer wieder aufdrängt.

Nach und nach durchschaut der Leser Roths Selbstbetrug: Hinter seiner Überheblichkeit versteckt sich tiefe Einsamkeit. Großkotzig überspielt er seine Lebenskrise nicht nur gegenüber anderen, er gesteht sie sich auch selbst nicht annähernd an. Nach und nach entwickele ich Sympathie für diesen Menschen, der zwar reich an Geld und Status, aber arm an Beziehungen ist - bis er einen kurzen Abstecher nach Hause macht. Wie er sich seiner Tochter, seiner Ex-Frau und einem Anhalter gegenüber verhält, ist dermaßen abstoßend, dass mein Mitgefühl sofort erlischt. Und so sehe ich ungerührt Roth zu, wie er immer mehr dem Alkohol verfällt, einer Serviererin nachsteigt und sich an Breda und dessen Freundin heranschmeißt. 

Die Charakterzeichnung von Roth und sein schneller Abstieg sind faszinierend. Strunk schreibt bitterböse und teilt aus. Zwischen die satirischen Menschenbeschreibungen sind lyrische Passage eingestreut, wenn die Natur zum Thema wird. Immer wieder gibt es Anspielungen auf Thomas Mann: Auf das nahe Lübeck und das Buddenbrook-Haus, auf den Verfall der Buddenbrook-Familie, auf Castorp im Zauberberg und Aschenbach in Venedig am Strand. Das ist ein intellektuelles Vergnügen. Aber unausgesprochen stellt sich auch immer die Frage nach den Werten: Ist Roths Entwicklung tatsächlich ein Abstieg oder hat der Misanthrop tatsächlich eine neue Lebensweise entdeckt?

Das Buch steht auf der Nominierungsliste zum Deutschen Buchpreis 2022.