Rezension

Aus der Entfernung sieht man besser

Die Unschärfe der Welt - Iris Wolff

Die Unschärfe der Welt
von Iris Wolff

Sieben Kapitel, jedes aus der Perspektive eines anderen Menschen erzählt:

"Zapada" beschreibt das Leben von Florentine, die mit ihrem Mann Hannes in seine erste Pfarrstelle in ein Banater Dorf gezogen ist. Harte Winter, aber auch ein fruchtbarer großer Garten, und dazu eine Dorfgemeinschaft, zu der sie bei aller Verbundenheit sich doch nicht zugehörig fühlt. Florentine bewahrt sich eine innere Unabhängigkeit, sie macht sich nicht vom Urteil anderer abhängig und urteilt auch nicht. Auswärtige Besucher werden willkommen geheißen, so auch Bene und sein Freund Lothar aus der DDR. Florentines einziger Sohn Samuel spricht spät und wenig und entspricht damit so gar nicht den Erwartungen, doch ihr fällt es nicht schwer, ihm Zeit zu lassen. Er spielt mit seinem Freund Oswald, läuft mit den Schafen in der Herde. "Zapada", Schnee, ist das Wort, dass er am Ende des Kapitel laut und deutlich von sich gibt.

"Echo" wurde er genannt; sein Taufname war Gregor. Nun ist der Sechzehnjährige im Fluss ertrunken, und der Pastor Hannes muss ihn beerdigen. Es fällt ihm nicht leicht, passende Worte für die trauernden Eltern zu finden. Dazu kommt die Sorge um Samuel, der immer noch so eigenwillig ist, aber bald zur Schule muss. Immerhin hat er inzwischen Freundschaft mit dem gleichaltrigen Mädchen Stana geschlossen. Schwierigkeiten macht auch Konstanty, der anscheinend für die Regierung spitzelt und eine Vorladung von Hannes wegen seiner vielen deutschen Gäste veranlasst.

Immer wieder treffen wir auf die gleichen Personen. In "Leviathan" lernen wir Karline kennen, Hannes Mutter. In "Windwanderer" ist es Stasa, "Makromolekular" folgt der Sicht von Oz/Oswald, Samuels Freund, in "Jupiter" treffen wir wieder auf Bente und im Abschlusskapitel "Prestigio" auf die jugendliche Livia, Samuels Tochter. Sieben Kapitel, sieben Personen, deren Perspektive wir folgen, und immer wieder ist die verbindende Figur Samuel. Doch obwohl wir niemals seiner Innensicht folgen können, erfahren wir viel über ihn. Wie Livia meint, "kam es ihr vor, als brauchte es diese Ferne, um jemanden sehen zu können. Näherte man sich einander an, nahmen Unsicherheit und Unschärfe zu."

Kommentare

FIRIEL kommentierte am 13. Juli 2021 um 16:16

Ich war noch nicht fertig, aber da mir heute ständig der Computer abschmiert, habe ich schon mal einen Teil gepostet...

Es ist eine überraschende Erzählweise, einen Menschen nur durch die Augen der anderen zu beschreiben. Das ist ungewöhnlich und auch etwas gewöhnungsbedürftig; hin und wieder habe ich mir dann doch Samuels Innensicht gewünscht. Aber es ist ja tatsächlich so, dass wir niemals einen anderen Menschen wirklich kennen können. So muss man sich wohl mit einer Annäherung zufrieden geben. Und vielleicht liegt ja gerade in diesen Brüchen und Lücken etwas Wichtiges und in der Erkenntnis, dass beim Blick auf die Details der Eindruck des Ganzen verloren gehen kann.

Das Buch von Iris Wolff ist originell und sprachlich äußerst fein formuliert. Es steht auf der Nominierungsliste zum Deutschen Buchpreis 2020.