Beeindruckende Beobachtungsgabe
Bewertet mit 4.5 Sternen
Julia ist Keramikerin und hat gerade ihr erstes Geschäft in der sonst relativ verwaisten Innenstadt eines Ortes in der Nähe Hamburgs eröffnet. Auch an das Vorort-Haus, dass sie mit ihrem Mann gekauft hat, muss sie sich als ehemalige Großstädterin erstmal gewöhnen. Doch den meisten gedanklichen Raum nimmt ihr Kinderwunsch ein. Und den zu erfüllen ist mit bald 40 Jahren nicht die einfachste Aufgabe. Astrid hingegen hat Kinder die schon aus dem Haus und in der Welt verstreut sind. Mit Anfang 60 würde sie gerne bald in Rente gehen, doch weit und breit ist kein Nachfolger für ihre Hausarztpraxis in Sicht.
Leise und unaufgeregt beschreibt Kristine Bilkau in ihrem Roman "Nebenan" das Leben zweier Frauen und deren alltäglicher Probleme, die präzise den aktuellen Zeitgeist treffen. Sei es eine Kinderwunschbehandlung, eine immer anonymer werdende Nachbarschaft, Mysogonie, das Sterben der Innenstädte, Freundschaft, Umwelt oder die Veränderungen, die der Berufsaustieg mit sich bringt. Bilkau überstrapaziert keines dieser Themen, streift sie manchmal nur, aber ihre genaue Beobachtungsgabe macht die Lektüre lebendig und nachvollziehbar.
Besonders Bilkaus Beschreibungen verwaister Innenstädte fand ich schmerzhaft aktuell. Nur noch Dönerläden, Handyshops, Leerstand und vernagelte Fenster. Das Schwimmbad, dass es in der Kindheit gab und nun nicht mehr. Fast meinte ich, sie beschreibt die Stadt MEINER Jugend, weil sie den Nagel so exakt auf den Kopf trifft.
Ich hätte gerne noch weiterlegelesen, Julia und Astrid noch länger begleitet aber der Roman gönnt dem Leser kein Happy End, keinen Schlusspunkt, kein konkretes Fazit, wie es das echte Leben einem ja auch nicht gönnt.
Trotz seiner Bedächtigkeit und Ruhe war "Nebenan" für mich spannend zu lesen. Sympathische Figuren, aktuelle Themen und ein leichter Erzählton sorgen für ein rundes Leseerlebnis. Wer Doris Knechts "Die Nachricht" mochte, wird auch diesen Roman gerne lesen!