Rezension

Berührend

Der nie abgeschickte Liebesbrief an Harold Fry - Rachel Joyce

Der nie abgeschickte Liebesbrief an Harold Fry
von Rachel Joyce

Eine berührende, tiefgehende und traurig-schöne Geschichte, um die andere Sicht dieser Pilgerreise und das Leben von Queenie Hennessy kennen zu lernen. Tatsächlich verband sie nicht nur eine kurzweilige Freundschaft und eine Zeit als Arbeitskollegen, sondern beide hingen ihr Leben lang den Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit nach. Beide fühlen sich dem anderen etwas schuldig, möchten endlich die Wahrheit erzählen, die sie so lange in sich tragen und die sie innerlich zu erdrücken scheint. Harold Fry ist losgelaufen... und Queenie Hennessy hat ein letztes Mal zum Stift gegriffen.

Der Schreibstil der Autorin ist wie ein Sog. Mit wenig Kitsch und sorgfältiger Wortwahl schafft sie es, unglaublich gefühlsgewaltige Situationen zu schaffen, egal ob Trauer, Freude, Wut oder Sehnsucht. Sie schreibt aus der Sicht von Queenie Hennessy, wie sie ihre Tage im Hospiz wahrnimmt und welche Gedanken sie beschäftigen. Unterbrochen wird die Geschichte im Heute von Erinnerungen aus Damals, die Geschichte von Harold und Queenie aus ihrer Sicht, Verknüpfungen, von denen Harold und auch wir Leser im ersten Buch noch wenig ahnten, Begegnungen, die sie wieder auferstehen lässt. Der nie abgeschickte Liebesbrief ist nicht nur ein Liebesbrief, sondern eine Lebensgeschichte, ein Gelübde und irgendwie erreicht ihn Harold doch.

Leider habe ich die Bücher in zu grossen Abständen gelesen. Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry begeisterte mich 2012 so sehr, dass ich das Geheimnis der Queenie Hennessy kaum erwarten konnte. Während der Lektüre musste ich jedoch feststellen, dass ich viele Kleinigkeiten nicht mehr präsent hatte, vergessen oder nur schemenhaft in Erinnerung. Ich fand es schade, weil ich so die Bedeutung von Schlüsselmomenten und essentiellen Vergangenheitsstücke zwar spürte, mir aber immer ein kleines Etwas zu fehlen schien. So las ich nach diesem Roman auch nochmals das Ende des ersten Buches, um den Schlussakt aus beiden Seiten betrachten zu können. Denn nur mit dem Blick von Harold, aber auch dem Blick von Queenie ist das Ende - in beiden Büchern - so bedeutungsvoll und schön, obwohl es traurig ist.

Ganz allgemein ist das zweite Buch stiller, trauriger und eindeutig von einer Person, die vor ihrem Tod sich an ein ganzes Leben erinnert und abschliessen möchte. Dieser triste Nebel zieht sich ganz fein durch den ganzen Roman und schafft somit eine Atmosphäre der Nachdenklichkeit. Trotzdem glitzern Hoffnung, Liebe und Freude wie verlorene Perlen auf, die gerade deswegen umso mehr glänzen. Wieder zeichnet die Autorin liebevolle Persönlichkeiten: Die Nonnen des Hospiz, die sich um Queenie sorgen, Mitbewohner und andere Patienten, die zu Queenies engsten Freunden werden, David, der Sohn von Harold und auch Maureen, seine Frau, kommen wieder vor...

Zwei Schätze im Bücherregal, die meiner Meinung so nahe wie möglich nacheinander gelesen werden sollten, um sich gegenseitig zu vervollständigen!

4,5 / 5 Sterne