Rezension

Die Pilgerreise der Quennie Hennessey

Der nie abgeschickte Liebesbrief an Harold Fry - Rachel Joyce

Der nie abgeschickte Liebesbrief an Harold Fry
von Rachel Joyce

Zum Inhalt: „Der nie abgeschickte Liebesbrief an Harold Fry“ erzählt die Geschichte der unwahrscheinlichen Pilgerreise des Harold Fry aus der Sicht von Queenie Hennessey. Queenie ist die Frau, zu der Harold sich im ersten Teil von Rachel Joyces Geschichte über 800km quer durch England zu Fuß auf den Weg macht.

Queenie steht, terminal an Krebs erkrankt, am Ende ihres Lebens. Sie lebt in einem Hospiz und hat sich mit dem nahenden Ende ihres Lebens abgefunden, doch ihre Gedanken kreisen um Harold, den sie zuletzt vor 20 Jahren in Kingsbridge gesehen und dem sie ihre große Liebe nie gestehen konnte. Er ist ihr nicht abgeschlossenes Lebenskapitel, nicht zuletzt wegen einer großen Schuld, die sie auf sich geladen hat und die ihr Leben und das Harolds, ohne dass er jemals davon wusste, seit zwei Jahrzehnten verbindet.

Queenie sendet Harold einen letzten Gruß, um ihn wissen zu lassen, dass sie bald sterben wird. Als Antwort erhält sie die Nachricht, dass Harold sich zu Fuß auf die Reise zu ihr begeben hat, um sie ein letztes Mal zu sehen. Davon überwältigt, spürt Queenie immer stärker den Wunsch, Harold nach solch langer Zeit von der größten Lüge ihres Lebens zu erzählen. Die Wochen, in denen Harolds Füße ihn quer durch England tragen werden somit auch die Wochen, in denen Queenie eine der wichtigsten Geschichten ihres Lebens zu Papier bringt – um Harold endlich die Wahrheit wissen zu lassen, aber auch, um sich vor ihrem Tod von der größten Last ihres Lebens zu befreien... „Als ich dir meinen ersten Brief schickte, wollte ich damit mein Leben ordnen. Für mich selbst mit der Vergangenheit abschließen. Ich habe nicht damit gerechnet, dass Du losläufst.“

Eigene Meinung: Über ein Jahr war es für mich her, dass ich „Die unwahrscheinliche Pilgrreise des Harold Fry“ gelesen hatte. Umso faszinierender war es für mich mit Hilfe ihrer klaren, poetischen und dabei schnörkellosen Sprache, innerhalb von wenigen Sätzen und durch wenige Bilder, die an den ersten Teil anknüpfen, zurückversetzt hat in die Handlung und das Lesegefühl der Geschichte um Harold Fry und seiner Reise durch England. Rachel Joyce kann mit wunderbar einfachen Worten bedeutende Dinge sagen. Dieser Aspekt ist für das Lesen genauso wichtig wie  die Handlung des Buches. Selten habe ich ein Buch so aufmerksam, jeden Satz betrachtend und Wort für Wort genießend, gelesen. Auf nahezu jeder Seite entdeckt man Sätze,  in denen zentrale Wahrheiten des Lebens so schlicht und schön, und häufig liebevoll verpackt den Protagonisten der Handlung in den Mund gelegt werden. Auf nahezu jeder zweiten Seite habe ich innegehalten, um mir solche wunderschönen Sätze zu markieren oder rauszuschreiben.

Die Geschichte wird einem ruhigen, gemächlichen Tempo erzählt. Zeit verstreicht in einem Hospiz sehr viel langsamer als in der übrigen Welt, und diese Stimmung, in der kleine Details plötzlich an Bedeutung erlangen, dazu anregen, die Gedanken schweifen zu lassen und an einem ganz anderen Punkt wieder anzukommen, wird von Rachel Joyce meisterhaft eingefangen.

Abhängig davon, ob man den ersten Teil von Harold Fry bereits gelesen hat, oder nicht, nimmt man das Buch vermutlich vollkommen unterschiedlich auf. Meiner Meinung nach ist es ein Zugewinn, wenn man den ersten Teil bereits kennt, nicht, weil einem sonst wertvolle Informationen fehlen würden, sondern, weil man bereits um das Drama weiß, dass im Leben von Harold, David und Queenie geschehen ist. Dies gibt einem die Möglichkeit, als Leser nicht ständig gebannt auf die Auflösung zu warten, sondern sich auf die ruhigen Töne des Buches zu konzentrieren, die das Buch dank Rachel Joyces wunderbarer Sprache und Komposition wie eine leise, traurige und friedliche Melodie durchziehen.

Das Buch endet dann im gleichen Stil, in  dem auch schon die Pilgerreise von Harold Fry im ersten Band zu einem Ende kam und passend zur Grundstimmung des gesamten Buches: obwohl man als Leser immerzu auf die Ankunft Harolds im Hospiz wartet und bangt, dass er es möglicherweise nicht rechtzeitig schaffen könnte, endet das Buch keinesfalls mit einem Paukenschlag, sondern leise und versöhnlich.

Als ich das Buch weggelegt habe, war ich einerseits traurig, dass dieses Buch, welches ich mit soviel Genuss gelesen habe, vorbei ist – andererseits aber auch glücklich über die wunderschöne Geschichte und die unzähligen schönen und klugen Worte, die ich mir im Laufe des Buches markieren konnte! Der Blickwinkel auf die unterschiedlichen Figuren waren für mich noch gelungener als im ersten Teil um Harold Fry und die Schilderung der Geschichte aus Queenies Sicht ergeben ein viel runderes und zufriedenstellenderes Bild.

Eine wunderbare Geschichte für die ruhige Zeit zum Jahresende!!!