Rezension

Das große Desaster im Kleinen erzählt

Was es braucht in der Nacht -

Was es braucht in der Nacht
von Laurent Petitmangin

Laurent Petitmangin, selbst in Lothringen in eine Bahnarbeiterfamilie hineingeboren, schafft in seinem gesellschaftskritischen Roman „Was es braucht in der Nacht“ den Spagat zwischen einer ganz persönlichen Familiengeschichte und den großen gesellschaftspolitischen Fragen unserer Zeit.

Mit dem Vater von Fus und Gillou, setzt er einen abgearbeiteten Ich-Erzähler auf die Spitze dieses massiven, problembelasteten Eisbergs von Familie, die nur noch aus den genannten drei Männern und einigen Wahlverwandten besteht. Denn „die Mutti“ ist an Krebs verstorben, als die Jungs noch Kinder waren, und dies hat einen Riss in der Familie hinterlassen, den der Vater nicht mehr fähig ist, aus eigener Kraft zu kitten. Fus rutscht in die rechte Szene im Dunstkreis des Front National ab, welcher gerade in ländlichen, früheren Arbeiterregionen, immer mehr Aufschwung bekommt. Es entsteht eine Abwärtsspirale, die die Familie in den Abgrund zu reißen droht.

Bereits auf den ersten Seiten dieses großartig entworfenen und feinfühlig erzählten Romans wird klar, dass Petitmangin nicht nur eine rein schicksalhafte Familiengeschichte mit den groben Worten eines Bahnarbeiters erzählen möchte, sondern in seinen Sätze auch tonnenschwere Aussagen über den Zustand des immer hoffnungsloser werdenden Arbeitermilieus einbringt. Er benötigt für tiefgründige Überlegungen nur wenige Pinselstriche, um diese glaubwürdig und nachvollziehbar zu zeichnen. Mit seinen 160 Seiten ist dieser Roman auf das Allernötigste aber eben auch das Allerwichtigste reduziert. Fast jeder Satz kann herausgenommen und auf seine Deutungsmöglichkeiten hin überprüft werden. Die Erzählung, welche noch relativ ruhig beginnt, nimmt gerade im letzten Drittel des Buches stark an Fahrt auf und spannend mündet alles in gleich mehreren Katastrophen, mich erst einmal auf der letzten Seite sprachlos zurückgelassen haben.

Was braucht es, um einen Menschen und die Menschen, die ihn lieben, in den Abgrund zu reißen? Welche Verwicklungen des Schicksals, aber auch welche politischen Fehlentscheidungen und wirtschaftliche Folgen bringen die Menschen ganzer Landstriche ins Wanken und führen sie in die Arme von extremistischen Gruppierungen? Was hätte es gebraucht, um einen Menschen von seinen unumkehrbaren Taten abzuhalten, ihn in eine andere Richtung zu lenken? Wie geht eine Familie und im Speziellen ein Vater damit um, wenn ein geliebter Mensch abdriftet und was wäre eigentlich die „richtige“ Art damit umzugehen? All diese und noch viele weitere Fragen wirft der vorliegende Roman von Laurent Petitmangin auf. Beantwortet bekommen wird sie kaum oder gar nicht, doch allein für die Beschäftigung mit ihnen, das Durchdeklinieren der Möglichkeiten, lohnt sich die Lektüre dieses Romans doppelt und dreifach.

Meines Erachtens äußerst authentisch beschreibt der Autor den Kampf oder auch eben nicht vorhandenen Kampf des Vaters um seine Söhne; mit Worten und Gedankengängen des Ich-Erzählers, die einem Mann aus dem Arbeitermilieu angepasst sind. Allein ein Kritikpunkt meinerseits steckt in genau diesen Worten: die Wahl der beiden Übersetzer den Begriff „la moman“ (siehe Original) mit „die Mutti“ zu übersetzen. Meinetwegen hätten sie die französische Formulierung gänzlich im Text belassen können, aber diese sehr spezielle Verniedlichung des Begriffs, den der Vater durchgängig für seine verstorbene Ehefrau verwendet, schmerzt bei jedem Lesen und reißt aus dem ansonsten intensiven Lesefluss dieser düster-gedrückten Atmosphäre heraus.

Da dies jedoch mein einziger, kleiner Kritikpunkt an dieser ansonsten wirklich mitreißenden wie auch vieldeutigen Geschichte ist, kann ich eine Lektüre nur aus ganzem Herzen empfehlen, denn diese Geschichte einer Radikalisierung und die Auswirkungen auf die Familienmitglieder ist etwas Universelles, was nicht nur in Lothringen in Frankreich, sondern genauso auch in Deutschland, den USA, Italien oder Brasilien so stattfinden kann und derzeit weltweit auch stattfindet.

Somit komme ich auf 4,5 Sterne, die ich gern auf 5 Sterne zugunsten dieses grandios entworfenen Romans aufrunde.