Rezension

Der keinen Namen braucht

Kangal -

Kangal
von Anna Yeliz Schentke

Kangal - das ist ein anatolischer Hirtenhund, stark und mutig, der auch gegen Wölfe kämpft. Kangal1210 - das ist das Online-Alias von Dilek, einer jungen türkischen Frau, die die herrschenden politischen Verhältnisse kritisiert. Doch das kann nicht offen geschehen, und so heißt es in diesem Buch auch immer "Ismi lazim degil" - der keinen Namen braucht. Eine nahe Freundin ist schon inhaftiert, und wer weiß, wann sie selbst in den Fokus geraten wird? So macht sich Dilek auf nach Deutschland, zu ihrer Cousine Ayla, die sie seit Jahren nicht mehr gesehen hat, und sie sagt nicht einmal ihrem Freund Tekin Bescheid. Dabei fühlt sie sich auch in Deutschland nicht in Sicherheit: Was, wenn regimetreue Deutschtürken sie verraten?

Drei unterschiedliche Erzählperspektiven: Dilek, die sich viele Gedanken macht und ständig in Sorge ist; Tekin, der fest davon überzeugt ist, dass er in jedem Fall kämpfen muss, selbst auf die Gefahr hin, verhaftet zu werden; Ayla, die von ihren Eltern behütet, aber auch bevormundet wird, die Türkei nur als Urlauberin kennt und kaum etwas über die politische Situation weiß. Junge Menschen in der Türkei kämpfen um ihre politische Freiheit, junge türkische Frauen in Deutschland um ihre persönliche Freiheit. "Ganz ehrlich, hier ist es fast schlimmer als drüben"... "Die Politik, okay, die ist schlimmer in der Türkei. Aber die Leute hier, die sich Türken nennen, die sind konservativer als der Staat persönlich." (S. 170)

"Ich rede mit keinen Türken in Deutschland. Du weißt nie, wie die denken. Mit den Türken musst du vorsichtig sein, weil wenn die rausfinden, dass du Oppositionelle bist, dann bist du in Gefahr. Die haben ihre Kontakte, das heißt, du kannst nie wieder zurück. Und mit den Deutschen ist es auch schwierig, die denken immer erst mal, dass man den gut findet, dass man religiös ist oder nationalistisch. Den einen darfst du nicht sagen, dass du dagegen bist, den anderen musst du es sagen. Und du musst direkt erkennen, wer wer ist." (S. 6)

Freiheit, Werte, Identität, Integrität - die Themen dieses Buches sind groß. Klare Antworten gibt es nicht, auch keinen klaren Abschluss der Erzählung. Diese Fragen muss wohl jeder Leser für sich beantworten. Das Buch hat mich darauf gestoßen, dass auch ich mich kaum mit der politischen Situation auseinandersetze, und dass auch ich Menschen in Schubladen packe. Die Perspektive von Dilek fand ich sehr interessant. Sicherlich habe ich einiges nicht verstanden, denn vieles wird nur angedeutet und häufig gibt es türkische Satzeinschübe. Aber es ist ja nicht nur die Sprache, die es uns schwermachen kann, uns in einen anderen Menschen  hineinzuversetzen; letzten Endes kann man den inneren Bezugsrahmen eines anderen niemals völlig erfassen. 

Das Buch steht auf der Nominierungsliste zum Deutschen Buchpreis 2022.

Kommentare

wandagreen kommentierte am 27. Oktober 2022 um 09:45

und häufig gibt es türkische Satzeinschübe ... die man im Googleübersetzer sich übersetzen lassen kann. No Problem.