Rezension

Der Mockingjay lebt

The Hunger Games - Mockingjay - Suzanne Collins

The Hunger Games - Mockingjay
von Suzanne Collins

Bewertet mit 4.5 Sternen

Nachdem das Capitol Distrikt 12 zerstört hat, gibt es kein Zurück mehr. Katniss ist zum Gesicht der Rebellion geworden. Aber kann sie der Rolle des Mockingjay gerecht werden, wenn es in die entscheidende Schlacht geht und sie sich nicht sicher sein kann, dass die Seite, auf der sie steht, die bessere ist?

Das fulminante Ende der Tribute von Panem ist für mich leider der schlechteste Teil der Reihe. Das soll nicht heißen, dass der Band schlecht ist; die anderen beiden fand ich meisterhaft, dieser hier hat nur ein paar Schwächen mehr.

Katniss wird wie gewohnt von einer Situation in die andere geworfen und weiß gar nicht so ganz, was um sie herum passiert. Sie soll das Gesicht der Revolution sein, dabei hat sie viel, was sie erst einmal verarbeiten muss. Ihre Heimat ist auf ewig zerstört, ihr Stylist Cinna getötet und Peeta als Geisel gefangen genommen worden. Katniss muss annehmen, dass das meiste ihretwegen passiert ist. Zu Beginn des Buches (und eigentlich den gesamten Band über) ist sie ein psychisches Wrack. Sie hat Angst, überhaupt noch irgendetwas zu machen, weil sie weiß, dass jeder Schritt ihrerseits den Tod einer geliebten Person bedeuten könnte. Deswegen verkriecht sie sich zu Anfang. Sie weigert sich, an schwerwiegenden Entscheidungen teilzuhaben und die Rebellion voranzutreiben. In dieser Situation wird deutlich, wie jung Katniss noch ist. Mit 17 Jahren hat sie schon mehr Menschen sterben sehen, als sie sollte. Zu wissen, dass viele nur ihretwegen gestorben sind, ist umso härter.
Viele bemängeln ihre Indifferenz zu Anfang, ich finde sie mehr als passend. Zwar ist es manchmal nervig, wenn sie sich in einem abgelegenen Raum verkriecht anstatt die Handlung voranzutreiben, aber es passt zu ihrem Charakter. Sie ist eine Heldin wider Willen, die noch nie regelkonform gewesen ist. Deswegen fällt ihr die Umstellung so schwer.

Distrikt 13 ist die Alternative zum Capitol. Aber ist er wirklich besser als das Capitol? Wird Coin eine bessere Herrscherin sein als Präsident Snow? Sehr gut gelungen finde ich, dass Collins hier keine Entscheidung trifft. Distrikt 13 ist nicht der perfekte Staat, der die Welt einen wird und alles wieder gut macht. Wie überall gibt es auch hier Intrigen und Mittel zum höheren Zweck. Bis zum Ende wird nicht unbedingt geklärt, ob 13 unter Coin die bessere Lösung ist. Dass sich beide Parteien mehr ähneln, als man denkt, zeigt sich in der Berichterstattung vom Krieg, die stark an die Fernsehauftritte für die Hungerspiele erinnern. Katniss wird in eine hübsche Rüstung geschickt und posiert für Propaganfilmchen, die die Rebellen anheizen und ermutigen sollen. Die Menschen ergötzen sich an Katniss' Leid, wenn sie ein Krankenhaus mit Kriegsopfern besucht. Wie pervers müssen Zuschauer sein, um sich so etwas anzusehen? Und doch sehen wir vor allem dieser Tage Kriegsaufnahmen von der ganzen Welt. Tun uns die Leute leid? Ja. Versuchen wir aktiv, etwas daran zu ändern? Nein. Wir sitzen gemütlich zu Hause und freuen uns insgeheim, dass es uns so gut geht.
Jaaaaa, ich liebe Gesellschaftskritik :)

Ich finde den Abschlussband viel härter als die vorherigen. Warum? Nicht nur gibt es ein paar brutale Tode (z.B. die Reptilien Mutts), nein, Katniss muss vor allem auf psychischer Ebene ziemlich viel leiden. Was ihr und Peeta da passiert, ist mehr als pervers und grausam. Die beiden tragen bleibende Schäden davon und werden sich wohl nie vom Captiol erholen können. Auch der zweite Teil war schon auf dieser Schiene ganz gut dabei (Angriff der Jabberjays), doch hier wird es echt sehr hässlich. Amazon sagt mir, dass das empfohlene Lesealter 14 beträgt. Vielleicht sind 14-jährige nicht ganz in der Lage, die Tragweite solch psychischer Folter zu begreifen, aber ich würde meine kleine Schwester ungerne so etwas lesen lassen. Im Gegensatz zum ersten Buch gibt es da eine deutliche Steigerung.

Handlungstechnisch fand ich, dass es etwas sehr langsam voran geht. Damit meine ich nicht die Phase, wenn Katniss unentschlossen in der Ecke sitzt. Viel langatmiger finde ich die Szenen in der Stadt. Dieses Empfinden wird für mich dadurch unterstüzt, dass ich mir manche Stellen nicht so gut vorstellen konnte (z.B. die Kanalisation inklusive der Flucht vor den Mutts). Es hat sich alles ein bisschen gezogen, und ich hätte es gut gefunden, wenn da an ein paar Stellen gespart worden wäre.

Ich habe schon von vielen Seiten gehört, dass das Ende der Reihe nicht so gut sei. Ich persönlich finde es sehr gelungen, jedoch auch ziemlich abrupt. Am Ende kommt alles Schlag auf Schlag, und plötzlich ist das Buch zu Ende. Da hätten es wieder ein paar Seiten mehr getan (die im Mittelteil hätten gestrichen werden können ;) ), um den Abschluss etwas runder zu machen.
Die Reihe endet nicht unbedingt positiv, aber das habe ich auch nie erwartet. Panem ist eine schreckliche Zukunftsvision, in der Menschen um die kleinsten Fetzen kämpfen müssen. Wenn am Ende plötzlich alles super-duper gewesen wäre, hätte ich das umso befremdlicher gefunden. Für mich ist das Ende insgesamt gesehen genau passend. Es sind nicht alle tot, aber es hat Verluste gegeben. Jeder der Charaktere wird für sein Leben gezeichnet sein und nichts mehr so sehen wie zuvor.

Mockingjay beendet die spannende Geschichte, die in den ersten beiden Bänden aufgebaut worden ist. Ich empfinde ihn als etwas schwächer als die übrigen Bände, allerdings ist das Meckern auf hohem Niveau. Auch dieser Teil hat mich stark beeindruckt und regt hoffentlich nicht nur mich zum Denken an, wenn man im Fernsehen Kriegsgeschehen mitbekommt.
An die Hunger Games musste ich vor allem während der Fußball-WM denken. Etwa zur gleichen Zeit ist die Situation im Gazastreifen eskaliert. Wer hat es mitbekommen? Kaum jemand. Ich war völlig schockiert, als in der Halbzeit im Spiel Deutschland - Brasilien zuerst von den Kriegshandlungen und dann von den glorreichen 6 Toren in der ersten Halbzeit berichtet wurde. In solchen Fällen kann ich verstehen, wie Suzanne Collins auf die Idee gekommen ist, diese wundervolle Reihe zu schreiben.