Rezension

Ein günstiger Augenblick?

Kairos -

Kairos
von Jenny Erpenbeck

Kairos, der Gott des günstigen Augenblicks, muss an seiner Stirnlocke gepackt werden, wenn man ihn ergreifen will - sonst ist er unwiederbringlich vorbei. 

Ein ganz besonderer Augenblick ereignet sich am 11. Juli 1986: Die 19-jährige Katharina und der 53-jährige Hans begegnen sich in der Straßenbahn, bleiben nach dem Aussteigen unter einer Brücke stehen, um den Regenschauer abzuwarten, er lädt sie zum Kaffee ein, sie begleitet ihn nach Hause, er spielt ihr Musik vor und sie landen im Bett. Es entwickelt sich eine komplizierte Beziehung: Hans ist verheiratet, hat einen Sohn, ist arriviert, gebildet und trifft immer wieder auf Frauen, die ihn faszinierend finden. Katharina ist zwar volljährig, aber noch naiv und unerfahren, sie ist fasziniert von dem erfahrenen Mann, der ihr neue Horizonte eröffnet. Beide können nicht ohne einander, aber miteinander auch nicht, denn zu viel steht zwischen ihnen...

Das Buch beschreibt die Entwicklung einer amour fou, einer Beziehung, die keinen der beiden glücklich macht. Immer mehr verstricken sich die beiden, und es tut mir weh, das zu lesen. Konnte ich mich anfangs noch einfühlen in die beiden, so werden sie mir immer fremder. Aber wie die beiden nicht voneinander lassen können, habe auch ich diese Beziehung verfolgt und mochte das Buch trotz aller abstoßenden Details nicht aus der Hand legen. Was aber noch weit mehr trägt als die Beschreibung dieser toxischen Liebe, ist ihre Einbettung in den historischen Zusammenhang: Katharina und Hans leben in Ostberlin, und der Zusammenbruch des DDR-Regimes bildet einen faszinierenden Hintergrund. 

Gibt es Parallelen zwischen der Staatsgeschichte und der Beziehungsgeschichte - muss eine Beziehung scheitern, wenn ein "Partner" dominant, kontrollierend und strafend auftritt? Gibt es Parallelen zwischen dieser Geschichte und Jenny Erpenbecks Biographie - hat auch sie, die im gleichen Jahr wie die Protagonistin Katharina geboren ist und ähnliche berufliche Erfahrungen gemacht hat, einmal eine vergleichbare Beziehung durchlebt? Und ist es wirklich ein günstiger, ein glückbringender Augenblick, der die beiden zusammenführt, oder wäre es für sie besser gewesen, wenn sie ihn hätten verstreichen lassen? 

Auch wenn ich vieles an dieser "Liebesgeschichte" abstoßend fand, so war sie dennoch faszinierend zu lesen und gab mir Einblicke in das Leben in der DDR und in die Phase der Wende.

Kommentare

Naibenak kommentierte am 28. Februar 2022 um 08:51

Oh ja, ein total faszinierender Roman. Hat mir auch supergut gefallen :-)