Rezension

Ein hervorragend erzähltes Stück Zeitgeschichte

Rabenkinder -

Rabenkinder
von Grit Poppe

Bewertet mit 5 Sternen

Spannender Krimi vor authentischem Hintergrund, der ein wenig bekanntes Unrechtskapitel in einem Unrechtsstaat thematisiert, das noch seiner Aufarbeitung harrt.

„Ein Wendekrimi“ ist der hier zu besprechende Roman 'Rabenkinder' untertitelt, ein Kriminalroman also, so war mir klar, bevor ich mit der Lektüre begann, der um das geschichtsträchtige Datum, dem 9. November 1989, dem Tag des Mauerfalls, spielt, oder irgendwann zwischen den Kommunalwahlen in der DDR im Mai 1989 und der einzigen wirklich freien Volkskammerwahl im März 1990.

Ich selbst bin im Zonenrandgebiet – auf westlicher Seite – aufgewachsen, die Teilung Deutschlands war also allgegenwärtig während meiner Jugend, immer unverständlich freilich, und das, was hinter dem Todesstreifen vor sich ging – über so vieles wurde ja gemunkelt, was Genaues wusste man nicht -, empfand ich immer als unheimlich. In lebhafter Erinnerung sind mir auch die Wochen, die dem Mauerfall vorausgingen; die Berichterstattungen über die Montagsdemonstrationen in Leipzig verfolgte ich mit wachsender Spannung, befriedigt schließlich über den Niedergang eines Unrechtsstaates, über dessen mehr als zweifelhafte Methoden seine Bürger gefügig zu machen im Laufe der nächsten Wochen, Monate und Jahre, eigentlich bis heute, immer mehr Unglaubliches, Erschreckendes, Menschenverachtendes ans trübe Licht des Tages sickerte.

So hielt ich mich also für wohlinformiert! Was ich dann allerdings hier in 'Rabenkinder' zu lesen bekam, ist ein Kapitel, über das ich bislang zugegebenermaßen nicht hinreichend informiert war und das dann wirklich wie ein Schock kam – obschon ich es mir hätte ausmalen können, hätte ich denn dahingehende Anstrengungen unternommen! Thematisch wird nämlich ein gar düsteres Kapitel aus der Zeit des DDR-Regimes behandelt, das schon während seiner Existenz totgeschwiegen wurde und dessen himmelschreiendes Unrecht mich geradezu fassungslos zurückließ. Das so etwas auch in anderen Staaten unseres von unvernünftigen Regierungen gequälten Planeten gängige Praxis ist, macht das Ganze nicht besser!

Aber der Reihe nach: die zuständigen Ermittler der Mordkommission aus Leipzig, die zu diesem Zeitpunkt noch militärische Titel wie Hauptmann oder Major trugen, werden am 10. November 1989, am Tag Eins nach dem Mauerfall, in den geschlossenen Jugendwerkhof der Stadt Torgau gerufen. Der Direktor dieser Anstalt, hinter deren offiziellem Namen sich in Wirklichkeit ein Gefängnis für 'schwererziehbare' Kinder und Jugendliche – was auch immer man darunter verstand – verbarg, wurde tot aufgefunden. Erhängt! Ob es sich um Mord oder Selbstmord handelt, ist zunächst unklar, wiewohl dank des auktorialen Erzählstils der Leser von Beginn an weiß, dass jener Direktor, über den im weiteren Verlauf der Geschichte viel Unschönes und Abstoßendes, um es noch milde auszudrücken, zu erfahren ist, keineswegs freiwillig den Tod gesucht hat. Der Fall wird den Leuten der MUK Leipzig denn auch schnell aus der Hand genommen, von der Firma 'Horch und Guck', wie man, so erfuhr ich in dem Kriminalroman, die unheimliche Stasi-Organisation, im Volke auch, sicherlich hinter vorgehaltener Hand, nannte. Noch in allerletzter Minute mischte dieser Unrechtsdienst des Unrechtsstaates mit, versuchte zu vertuschen und zu verheimlichen, was gerade noch möglich war – um sich danach flugs aus dem Staube zu machen und sich in die langen Schlangen hinter den Sanzaru, den berühmten drei Affen, die nichts sehen, nichts hören und nichts sagen, einzureihen. Wie das eben immer so ist, wenn die Diktaturen dieser Welt zusammenbrechen respektive gestürzt werden.

Die drei verbliebenen Jugendlichen des auf Margot Honeckers persönlichen Befehl in Windeseile und gerade noch vor Toresschluss liquidierten Torgauer Jugendwerkhofes, Tanja, Andreas und Maik, die von der sympathisch-menschlichen Ermittlerin Beate Vogt, die ihrerseits bei der Stasi in Ungnade gefallen war und aufs Abstellgleis geschoben werden sollte, ohne sie dann allerdings in Ruhe zu lassen, wissen mehr, als sie bereit sind zu sagen – und gerade der junge Andreas hätte den Fall in Windeseile zur Aufklärung bringen können, wäre er nicht so verschreckt und ängstlich gewesen!

Wenn einem überdies Steine vor die Füße gelegt werden, gestaltet sich jede Kriminaluntersuchung schwierig, allzumal die Jugendlichen plötzlich verschwinden und der Fall zu den Akten gelegt wird – um beinahe ein ganzes Jahr später, im Oktober 1990, wieder aufgerollt zu werden, als längst eifrig und allzu hektisch und, so erschien es mir damals und so erscheint es mir noch heute, 33 Jahre später, überstürzt und planlos an der Blitz-Wiedervereinigung gearbeitet wurde. Josef Almgruber, ein zwar williger und gar nicht überheblicher, aber seltsam uninformierter Kommissar aus Nürnberg wird zur Mordkommission Leipzig versetzt und unter seiner Ägide soll nun doch noch versucht werden, den Fall des toten Direktors zu lösen. Ob seine Wahl so klug war, mag man anzweifeln, orts- und systemunkundig, wie 'der Neue', der 'Wessi', nein, kein 'Besserwessi', wie man ihm zugestehen muss, nun einmal ist. Aber da ist ja schließlich noch Beate, die intuitiv immer wieder den richtigen Riecher hat und die durch ihr starkes Einfühlungsvermögen die inzwischen wieder aufgetauchte Tanja, die mit ihrem schweren Trauma, erlitten in der demütigenden Zeit im 'Jugendknast', alleingelassen ist, dazu bringt, wichtige Informationen zu dem noch immer rätselhaften Fall beizutragen.

Übrigens weiß man, dank des bereits erwähnten auktorialen Erzählverhaltens, als Leser stets, was mit Tanja und Andreas, der verschwunden bleibt und seine eigenen Seelennöte durchstehen muss, gerade geschieht. Man weiß um ihre Befindlichkeiten, ihren desolaten Seelenzustand, ihre Mühen, nach all den Jahren der durch nichts zu begründenden Gefangenschaft, denn etwas anderes war der Zwangsaufenthalt in den geschlossenen und offenen Jugendwerkhöfen (wieder so ein Begriffkonstrukt, das etwas beschönigt, das jeder Beschreibung spottet!) zu keinem Zeitpunkt, in die neue Freiheit, die für sie keine ist, hineinzufinden. Und wenn man dann über die Praktiken liest, mit denen die jungen Menschen, die sich in den seltensten Fällen etwas wirklich Gravierenden haben zuschulden kommen lassen, außer dass sie im Verhalten und Aussehen nicht der gesetzten Norm entsprachen und somit nicht ins System passten, in diesen Institutionen gefügig gemacht und, was noch weitaus schlimmer ist, gebrochen wurden, dann kann man sich der aufsteigenden Tränen kaum erwehren....

Mehr über die immer spannender werdende Handlung, die am Ende in ein überraschendes Finale mündet und danach so vieles der Phantasie des Lesers überlässt, soll in dieser ohnehin schon sehr ausführlichen Besprechung nicht verraten werden. Es lohnt sich allemal, diesen wichtigen Roman zu lesen, selbst wenn man kein ausgesprochener Freund von Kriminalromanen ist. Das Buch stellt für mich ein unglaublich bewegendes, sehr informatives und, soweit ich das beurteilen kann, authentisches Stück Zeitgeschichte dar, das die Stimmung jener mir unvergesslichen Tage im November 1989 und ebenso der Monate danach, ziemlich genau trifft: den anfänglichen Enthusiasmus, aber auch all die Unsicherheit, Ratlosigkeit, das Erstaunen, die Vorsicht auf der einen Seite, das Fallen aller zuvor aufgelegten Schweigegebote auf der anderen. So vieles, das unter Verschluss gehalten wurde und von dem die als Jugendwerkhöfe getarnten Umerziehungslager sicher nur eine Facette waren, und von dem nicht einmal die eigenen Bürger Kenntnis hatten, kam ganz langsam an die Öffentlichkeit – und war hüben wie drüben ein Schock. Auch das vermittelt der Roman, genauso wie das schwierige Annähern an die Freiheit nach den Jahren der Unterdrückung, der Übergang zur Demokratie, die selbstredend gelernt sein möchte.

Kurz und gut: Grit Poppe hat mit ihren 'Rabenkindern', deren Titel sich im Laufe der Lektüre übrigens klärt, einen außergewöhnlichen Roman in beinahe makelloser Sprache und mit sehr überzeugenden, echten Charakteren geschrieben, an dem ich rein gar nichts auszusetzen habe. Dazu noch erscheinen Informationsgehalt und Spannungsaufbau wie aus einem Guss, ergänzen sich gegenseitig, passen wunderbar zusammen. So, genau so, stelle ich mir einen richtig guten Kriminalroman vor!