Rezension

Ein tolles Buch, über das man nachdenken kann und sollte!

Spanische Dörfer - Wege zur Freiheit
von Maria Braig

Bewertet mit 5 Sternen

La Marche ist eine junge Frau, die aus einem Land in Afrika aufgebrochen ist, um nach Europa zu gehen, wo sie in Freiheit leben möchte. Es bleibt unklar, aus welchem Grund sie ihre Heimat verlässt, denn sie hat ihr Gedächtnis gelöscht, hat anfangs nicht mal mehr einen Namen. Aus ihrem gesamten Verhalten wird nur klar, dass sie Schreckliches durchgemacht haben muss und dasss es keine leichtfertige Entscheidung aus dem Bauch heraus war. Sie macht sich einfach auf den Weg nach Nordafrika und muss dort feststellen, dass es nicht ganz so einfach ist, über Gibraltar nach Spanien zu kommen. Doch mit ihrem eisernen Willen schafft sie es schließlich, die Meerenge zu durchschwimmen.

Am Strand von Spanien trifft sie dann auf Enrique, der dort in der Sonne liegt und über seine Situation nachdenkt. Er kam als Mädchen Henriqua auf die Welt, war sich aber schon in jungen Jahren sicher, dass er im falschen Körper geboren wurde, denn er fühlte sich immer wie ein Junge und lebte und verhielt sich auch so. Seine Eltern kamen damit kaum klar und auch in seinem kleinen Heimatdorf wurde er nur schief angeguckt. Er ging zum Studium nach Madrid und ließ sich dort auch behandeln, um äußerlich männlicher auszusehen. Die letzte, große Operation wollte er jedoch nicht, denn es reichte ihm so, wie er war. So fühlte er sich wohl in seinem Körper und er brauchte nicht mehr. Nach seinem abgeschlossenen Studium kehrte er für den Sommer zu seinen Eltern zurück, denn er fand selbst in der Großstadt keine Arbeit. Er entschloss sich, nach Deutschland zu gehen, um dort Arbeit zu finden, wollte dies aber in seiner Heimat noch einmal überdenken.

Und während Enrique so am Strand lag und ein wenig döste, kam plötzlich diese Frau aus dem Meer. Enrique war irgendwie von ihr fasziniert, wie sie da aus dem Wasser stieg. Er gab ihr zu trinken. Als dann Polizisten auftauchten, die am Strand patrouillierten, erkannte er, dass sie die Frau nicht finden dürfen. Er ruft ihr zu, dass sie laufen soll und lenkt die Polizisten ab, sodass sie nichts mitbekommen. So macht sich La Marche weiter auf den Weg nach Nordspanien, wo für sie erst einmal Endstation ist, weil sie im Winter nicht die Pyrenäen überqueren kann. Dort trifft sie auf ein altes Ehepaar, das ihr weiter hilft, und durch das sie auch ihren Namen in Manso wechselt. Mit Hilfe dieses Paares schafft sie es schließlich auch nach Deutschland, wo sie sich in Freiheit glaubt, wo es aber so ganz anders ist, als sie es sich vorgestellt hat.

Enrique verabschiedet sich vor seinem Aufbruch nach Deutschland noch von seinem besten Freund Leon. Leon gilt als geistig behindert, weil er das Down-Syndrom hat. Im Endeffekt ist dies nur ein überzähliges Chromosom, das ihn anders aussehen lässt und durch das bei ihm nur sein Lernverhalten verlangsamt wird. Leon ist aber sehr eifrig im Lernen und schließt die Schule ab. Er will unbedingt Lehrer werden und seinem großen Vorbild nacheifern, einem anderen Mann mit Down-Syndrom, der bereits das Studium hinter sich hat und auch das Lehrerexamen bestanden hat. Leon weiß, dass es schwer werden wird für ihn, eine Anstellung als Lehrer zu bekommen, denn die Arbeitslosigkeit in Spanien ist hoch und die Lehrer, die ein Chromosom weniger haben als er, werden wohl immer bevorzugt werden. Doch er lässt sich nicht unterkriegen und hält an seinem Berufswunsch fest.

In München treffen Manso und Enrique dann wieder aufeinander. Beide haben inzwischen die Erfahrung gemacht, dass Deutschland für sie auch nicht bieten kann, wonach sie gesucht haben. Enrique findet auch dort keine Arbeit als Architekt und muss seine wahre Identität verbergen, um akzeptiert zu werden. Und Manso findet auch dort nicht die Freiheit, die sie braucht, um wieder leben zu können ohne Zwänge. Als Enrique dies Leon schildert, der gerade an seinem Abschlussexamen sitzt, hat dieser eine verrückte Idee, die schließlich gar nicht so verrückt ist.

Meine Meinung
Wie auch die bisherigen Bücher von Maria Braig handelt es sich hier nicht um eine Geschichte aus einer heilen Welt mit "normalen" Menschen. Es geht auch hier wieder um Personen, die nicht in die gängigen Schubladen passen und die teilweise einfach vergessen, weggesperrt und übersehen werden. Menschen, mit denen man nichts zu tun haben will, weil sie eben irgendwie anders sind. Menschen, die einfach nur leben und akzeptiert werden wollen, wie sie sind. Und ich mag diese Geschichten, denn ich finde es wichtig, auch von diesen Außenseitern zu erzählen, die niemandem etwas Böses wollen, niemanden bedrohen - und doch oft als Bedrohung für unsere Gesellschaft angesehen werden, weil sie eben nicht in unsere "heile Welt" passen und unser Schubladendenken. Es geht auch hier wieder um Toleranz, Respekt vor anderen Personen und Akzeptanz ihrer Persönlichkeit. Und ich finde, diese Themen wurden in diesem Buch wieder hervorragend umgesetzt ud dem Leser nahe gebracht.

Alle drei Personen erhalten eine richtige Persönlichkeit. Auch wenn Manso die ganze Zeit recht unnahbar wirkt, weil man so gar nichts von ihr und ihrer Vergangenheit erfährt, so habe ich beim Lesen doch gespürt, dass ihr etwas ganz Schreckliches passiert sein muss, wodurch sie das Vertrauen in die Menschheit verloren hat. Und wer die ganzen schrecklichen Greueltaten aus den afrikanischen Kriegsgebieten zumindest vom Hörensagen kennt, der kann erahnen, was passiert ist. Auch wenn es nie angesprochen wird im Buch, denke ich doch, dass es nicht nur eine einzelne Gewalttat einer Einzelperson gewesen sein wird. Manso hatte also einen triftigen Grund, ihre Heimat zu verlassen. Bei der Beschreibung ihres Weges wird dann aber auch deutlich, dass sie gar keine konkrete Vorstellung hat, was sie in Europa vorfinden wird. Ihr ist auch das Land, wo sie hin will, eigentlich egal. Sie hat nur eine ungefähre Vorstellung, dass es Mitteleuropa sein soll. Und ich denke, dass Maria Braig mit der Person von Manso eine Gruppe von Flüchtlingen skizziert hat, die wir uns hier im sicheren und weltweit vernetzten Deutschland kaum vorstellen können. Manso hat nämlich kein wirkliches Ziel ihrer Flucht vor Augen. Sie weiß nicht, was sie erwartet. Sie will einfach nur Freiheit, Freiheit von allen Zwängen. Und sie glaubt, dass sie das in Europa finden wird. Dass in Europa dann ganz andere Zwänge wie etwa das Asylverfahren auf sie warten, war ihr unbekannt. Und dass sie während des Verfahrens in engen Unterkünften auf die Entscheidung warten müsste, war für sie ganz unvorstellbar. Denn diese Enge könnte sie auch gar nicht ertragen. Schon das Asylverfahen und die ganzen behördlichen Zwänge wie auch die detaillierte Auskunft dessen, was ihr passiert ist, sind für sie einfach undenkbar. Das erträgt sie einfach nicht! Um überleben zu können, hat sie diese Erinnerungen aus ihrem Gedächtnis gelöscht, lebt nur im Hier und Jetzt.

Dieses Verhalten von Manso kennen wir sonst nur von schwer traumatisierten Personen, die Opfer schwerer Gewalttaten geworden sind. Sind es Personen aus Deutschland oder anderen sogenannten zivilisierten Ländern, gehen wir ganz behutsam mit ihnen um. Wir lassen ihnen die Zeit, ihre Erlebnisse zu bewältigen, geben ihnen die medizinische und psychologische Hilfe, die sie brauchen, um wieder ins Leben zurück zu finden. Und obwohl wir immer wieder von diesen grausamen Taten aus Afrika hören, die oft jenseits unserer Vorstellung liegen, was Menschen anderen Menschen antun können, zwingen wir diese traumatisierten Flüchtlinge hier in das Asylverfahren, wo sie Schlange stehen müssen, um dann vor einem Verwaltungsbeamten am besten noch im Verwaltungsdeutsch locker flockig zu schildern, welche Gewalttaten ihnen angetan wurden - oft sogar von Verwaltungsbeamten der Regierung. "Sind Sie mit dem Tod bedroht worden? Hat man Ihnen gesagt, dass Sie umgebracht werden? Nein? Dann müssen Sie zurück." Dass es allgemein bekannt war, dass man stirbt, wenn man gewisse Dinge nicht machte, sich auflehnte oder dergleichen, zählt nicht. Dafür, dass der Tod ständig über einem schwebte, dafür gibt es keine Spalte im Formular. Diese Widersinnigkeit, diese absolute Gefühllosigkeit des Systems für das Schicksal dieser Menschen ist für jemanden, der nicht direkt damit befasst ist, kaum zu begreifen. Es muss doch auch einen anderen Weg geben, wie wir diese Flüchtlinge menschlich behandeln und trotzdem entscheiden können, ob sie ein Recht auf Asyl haben oder nicht.

Das Asylverfahren hier in Deutschland wird im Buch zwar nicht direkt thematisiert, aber es klingt ein wenig an, wenn es darum geht, dass es für Manso undenkbar ist, einen Asylantrag bei der Behörde zu stellen und sie Angst davor hat, in eine Asylantenunterkunft zu müssen. Lieber bleibt sie als Illegale im Untergrund, lieber lebt sie in Angst, von der Polizei doch noch aufgegriffen zu werden. Und diese Angst, die Sehnsucht nach Freiheit, einfach frei von Zwängen leben und arbeiten zu können - das klingt meines Erachtens in dem Buch sehr gut an. Es hat mir mal wieder ein paar der Probleme, mit denen wir Flüchtlinge konfrontieren, näher gebracht und es hat dazu beigetragen, Flüchtlinge besser zu verstehen.

Ganz andere Probleme, die dann doch nicht ganz so unterschiedlich sind, hat dagegen Enrique. Ich denke, es gibt viel mehr Menschen, als wir glauben, die mit ihrem angeborenen Geschlecht nicht zufrieden sind und mit ihn schlicht und einfach nicht leben können und wollen. Die Medizin hat inzwischen einige Verfahren entwickelt, mit denen sich diese Menschen ein bisschen wohler in ihrer Haut fühlen. Aber schlimmer ist es, dass ihre Umwelt sie nicht so akzeptiert, wie sie sein wollen. Und das ist auch das Problem von Enrique. Mit Hilfe der Medizin steckt er inzwischen in einem Körper, in dem er sich wohl fühlt. Doch er kann keinem davon erzählen, wer er mal war oder welche Probleme er mit seiner Familie hat, weil er dann das Risiko eingeht, dass ihn auch die Menschen, unter denen er nur als Mann bekannt ist, dann mit anderen Augen ansehen und ablehnen. Enrique fühlt sich keiner Gruppe so richtig zugehörig und daher ziemlich allein und als Außenseiter.

Und dann ist da noch Leon. Dass jemand mit Trisomie 21 (eine andere Bezeichnung für das Downsyndrom) eine Hauptfigur in der Geschichte spielt, fand ich sehr überraschend. Das findet man nicht oft. Anfangs dachte ich, dass er gar nicht typisch dargestellt ist. Insbesondere sein Satzbau kam mir viel zu komplex vor und er dachte viel zu vernetzt. Doch dann dachte ich an mein Freiwilliges Soziales Jahr in einem Heim für geistig Behinderte zurück, wo ich viel mit diesen Menschen zu tun hatte. Und ich habe schon dort gesehen, dass es sehr viele verschiedene Ausprägungen dieser Behinderung gibt. Ich hatte zu tun mit ganz schweren Fällen, die auch im Erwachsenenleben emotional und geistig einem Kleinkind gleich zu setzen waren. Und es gab dort auch welche, die lesen und schreiben konnten und mich mit ihrer komplexen Denkweise überraschten. Da übertrafen sie teilweise sogar uns mit der regulären Chromosomenanzahl. Und das waren immerhin nur die Menschen, die in einem Heim leben mussten und nicht allein leben konnten. Ich habe aber auch schon von Menschen mit Down-Syndrom gehört, die so fit sind, dass sie in einer eigenen Wohnung leben können. Eine Frau mit so einem Chromosom zu viel lebt sogar hier bei mir im Haus, auch wenn ich sie nicht näher kenne. Warum fange ich, die ich mich für sehr tolerant halte und wenig in Schubladen denkend, also an, Menschen mit Trisomie 21 in die Schublade "geistig behindert" zu stecken und ihnen schwierigere geistige Leistungen abzusprechen? Sie sind teilweise intelligenter als die Menschen, mit denen ich Abitur gemacht habe - oder auch bestimmte Verwaltungsbeamte! Als ich übrigens das Nachwort von Maria Braig gelesen habe, musste ich lachen, weil sie dort etwas ganz ähnliches beschreibt.

Auch Leon macht sich so seine Gedanken über seinen Platz in der Welt. Und vor allem auch darüber, dass er sich nicht als behindert sieht, sondern dass er eher behindert wird. Er kann den Stoff bewältigen, den er braucht für das Examen, und er ist der Meinung, dass er sogar ein besserer Lehrer sein wird, als diejenigen, die ihm einfach nichts zutrauen. Leon macht sich auch durchaus kritische Gedanken und ist sich bewusst, dass er etwa langsamer lernt als andere. Und er weiß, dass er auf dem spanischen Arbeitsmarkt mit seiner hohen Arbeitslosenquote wohl nie eine Chance haben wird. Auch wenn er versucht, vieles positiv zu sehen, ist er sich doch darüber im Klaren, dass er ein Außenseiter ist und in der Gesellschaft einfach nicht akzeptiert werden würde als Lehrer von "normalen" Kindern mit normaler Chromosomenanzahl.

Der Schreibstil ist übrigens recht ansprechend für solch komplexe Themen. Er ist leicht distanziert und drückt gar nicht auf die Tränendrüse. Die drei Menschen denken recht objektiv über ihre jeweilige Situation nach. Sie nehmen sie hin, denn sie sind ohnehin nicht in der Lage, sie zu ändern. Zufrieden sind sie natürlich nicht damit, aber sie versuchen, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden, wo sie gut leben können und auch die Gesellschaft mit ihnen. Durch diese leichte Distanz habe ich mich während des Lesens nicht mit den Personen identifiziert, wie es etwa in anderen Romanen der Fall ist. Ich fand es aber sehr positiv, denn so hatte ich mehr die Position des Beobachters und vielleicht Freundes und habe mehr über die Situation nachgedacht und darüber, was man eigentlich ändern müsste, damit auch diese drei sich in Gesellschaft wohl fühlen und nicht ausgegrenzt werden. Darüber kam ich wohl mehr ins Grübeln als bei einer emotionaleren Geschichte.

Dieses Buch finde ich wieder ein großartig gelungenes Werk, das sich mit Außenseitern beschäftigt und zum Nachdenken anregt. Und ich würde dieses Buch gerne vielen Menschen in die Hand drücken, die ganz pauschal gegen Flüchtlinge hetzen und alles, was nicht der Norm entspricht, verteufeln. Doch ich befürchte, sie werden dieses Buch nicht verstehen und es langweilig finden.