Rezension

Eine fatale Obsession für Bücher ...

Unter der Haut - Gunnar Kaiser

Unter der Haut
von Gunnar Kaiser

Bewertet mit 5 Sternen

Im Sommer 1969 kommt Jonathan Rosen zum Studium nach Manhattan. Er möchte in der Stadt das ultimative Mädchen finden und jobt angeblich als Fahrer für eine koschere Metzgerei in Yonkers. Wild und unersättlich will der bisher eher ängstliche Student leben – und einen großen amerikanischen Roman schreiben. Jonathan lernt einen älteren Juden kennen, ebenfalls auf der Suche nach außergewöhnlich schönen jungen Frauen; angeblich ist der Mann Maler. Indem Jonathan im Team mit Josef Eisenstein als Fotograf auftritt, sorgt er für eine glaubwürdige Legende des Mannes. Der Kellner im Diner hat den älteren Dandy schon öfter beobachtet, wie er Mädchen abschleppt, indem er sich als Antiquar oder Bücherliebhaber ausgibt. Eisenmann residiert in Brooklyn Heights auf einer Wohnfläche, die sonst für mehrere Familien reichen muss. Bibliothekszimmer mit deckenhohen Regalen, Flügeltüren, Klavier, marmorgefasste Feuerstellen demonstrieren, dass für Eisenstein Geld keine Rolle spielt. Man könnte den Mann für den Voyeur und Jonathan für den Hörigen in ihrer Beziehung halten. Die Frau, mit der er in Eisensteins  Haus den ersten Sex hatte, wird Jonathan jedenfalls nie wieder sehen. Zwischen den Männern entspannt sich eine Diskussion über Eisensteins üppigen Bestand historischer Bücher; Jonathan ist mit Büchern aufgewachsen und stolz darauf, dass er Deutsch lesen kann. Eisenstein verfügt außerhalb seiner Wohnung über ein weiteres Depot mit unbezahlbaren Erstausgaben. Könnte es sich hier um Beutekunst aus jüdischem Besitz handeln? Zweifel sind geweckt an Eisenstein und dem, was er zu sein vorgibt.

Ein Szenenwechsel führt nach Weimar kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Der kleine Josef Eisenstein soll von anderen Menschen ferngehalten werden, da seine Eltern als Folge der Spanischen Grippe Angst vor Ansteckung entwickelt haben. Da Josef seinen Eltern ohnehin gleichgültig zu sein scheint, wird er von wechselnden Personen versorgt, als wäre er eine Waise. Aufgrund bestimmter Vorfälle glaubt Josefs Vater, sein Sohn bringe anderen den Tod. Mit 10 Jahren wird der Junge in Pension zu seiner Tante nach Berlin geschickt; ihr Name - Schwarzkopf - ermöglicht ihm eine neue Identität, niemand ahnt hier, dass Josef Jude ist. Sein Vater wird später behaupten, er hätte sich nie wieder bei Josef gemeldet, um Frau und Kind nicht zu gefährden. Der Junge strolcht durch die Stadt, stiehlt, bricht ein, zeigt früh psychopathische Züge. In Hinterhöfen, Kellern und Kaschemmen taucht er ein in die Welt der Juden und Ganoven. Weil sein kriminelles Leben unbemerkt bleibt, schließt Josef daraus, er könne sich alles erlauben. Er wundert sich sogar, warum andere Schüler sich nicht unsichtbar machen können. Ziel seines Begehrens sind kostbare Bücher; Josef ist besessen von ihnen, verleibt sie sich ein. Man sieht förmlich seine Nase zittern, wenn er einem wertvollen Buch auf der Spur ist. Er findet zwei Mentoren, die sein Leben entscheidend prägen; einem Antiquar und einem Buchbindermeister saugt er förmlich ihr Fachwissen von den Lippen. Hier fällt auch das entscheidende Wort, das die Beziehung herstellt zu Ereignissen im New York des Jahres 1969. Schließlich wird im Haus des Buchbinders Cornelius in der Berliner Sophienstraße deutlich, dass Josefs Gier nach dem vollkommenen Buch nicht zu stillen ist und er andere Menschen damit in Gefahr bringt. … Eine amerikanische FBI-Ermittlerin reist 1990 schließlich nach Israel, um sich mit einem betagten Herrn zu treffen, der dort in einem Kibbuz lebt und Grapefruits anbaut, und legt damit eine Spur zu einem verblüffenden Romanende.

Fazit
Bevor in der Gegenwart an weiteren Orten geklärt wird, was der sonderbare Buchbinder aus der Berliner Sophienstraße mit dem von Büchern und Frauen besessenen Eisenstein aus Brooklyn Heights zu tun haben könnte, legt Gunnar Kaiser allerlei falsche Spuren aus, die seine Leser an ihrer Wahrnehmung zweifeln lassen. Eine eigenartige Stimmung wird allein durch den Wechsel im Stil und zwischen reformierter und alter Rechtschreibung erzeugt, je nachdem, in welcher Zeit ein Handlungsstrang spielt. Die atmosphärisch starken Beschreibungen mit ihrem opulenten Wortschatz, in ausufernde Satzkonstruktionen gekleidet, als stammten sie aus der Zeit der Buddenbrooks, sind eine reine Freude, der - sprachliche - Absturz wirkt ernüchternd, wenn es zeitlich wieder vorwärts in die 60er geht. Josef Eisenstein scheint aus einem Schwarz-Weiß-Film zu stammen und sich in einer monochromen Welt zu bewegen. Die Charakterisierung des jungen Rosen fällt erheblich nüchterner aus, auch hier empfinde ich den Schritt in die Gegenwart als Absturz. Begeistert bin ich von der Einbindung der fiktiven in die historischen Ereignisse. Ein Besessener, ein Psychopath während der 30er Jahre in einem jüdischen Handwerkerviertel gruselt mich gleich mehrfach, weil er die Aufmerksamkeit auf die Menschen in seinem Umfeld lenkt und ihnen damit möglicherweise den Tod bringt. Weniger gefallen hat mir die „Hanagihara“-Wirkung des Textes, das geschilderte Ausmaß an Tod und Leid fand ich übermäßig, um Lesern in epischer Breite etwas aufzuzeigen, das nach meiner Ansicht längst klar war. Ebenso ging es mir mit den Sex-Szenen – brachten sie die Handlung weiter? Eher nicht.

Atmosphärisch und stilistisch ein opulenter Roman über Obsessionen, den ich sicher noch einmal lesen werde.