Rezension

Einer werfe den ersten Stein...

Wer die Nachtigall stört ...
von Harper Lee

Bewertet mit 5 Sternen

Ich hatte eine ungefähre Vorstellung des Themas von Rassismus und prekärer Lage der Schwarzen in den USA der 1930er Jahre, doch sollte man sich erst zu Pudels Kern äußern, wenn man weiß, ob man Vorder- oder Rückseite des Gelockten sieht.
Ich lernte die anfangs achtjährige Scout Finch und ihren 4 Jahre älteren Bruder Jem kennen. Der alleinerziehende Vater Atticus ist Anwalt und sie leben im fiktiven Maycomb, Alabama, im Süden der USA, wo die Rassentrennung noch in der Bevölkerung verankert ist. Scout ist ein aufgewecktes Kind und erlebt ihre Umwelt unvoreingenommen. Mit ihrer erfrischenden und klugen Art eckt sie allerdings nicht nur bei ihrer Lehrerin, sondern auch bei den feinen Damen der Gesellschaft an. Neugierig auf die Menschen in ihrem Umfeld, macht sie sich Gedanken zu ihrem Nachbarn, der das Haus niemals verlässt. Das Leben der schwarzen Haushälterin ist für sie keine Tabuzone und sie freut sich auf den Besuch eines Jungen, der in den Sommerferien ihr Spielgefährte ist.
Die Idylle bekommt erst Risse, als ihr Vater die Pflichtverteidung eines Schwarzen übernimmt, der der Vergewaltigung einer Weißen beschuldigt wird. Zu dieser Zeit bedeutet ein solcher Vorwurf das Todesurteil für einen Farbigen. Aber auch Atticus Finch muss sich für seine Verteidigung rechtfertigen und selbst seine Kinder werden von Anfeindungen der Bürger des Städtchens nicht verschont.
Was dieses Buch so besonders macht, ist die Perspektive eines Kindes, eines weißen, priveligierten Kindes, dass aber ohne die Mutter aufwächst und drei sehr besondere Menschen ihre Familie nennt. Ihr Bruder, der sie beschützen will, ihr Vater, der ihr die Welt erklärt und der Haushälterin, die sie wie eine Tochter umsorgt.
Im Bestreben, die damalige Welt zu verstehen, stellt Scout die richtigen Fragen, ohne zu urteilen und gibt mir als Leserin das Gefühl, voll und ganz einzutauchen, in eine Gesellschaft, die ihre Kasten hat, dem Zeitgeschehen, der Entwicklung in den USA. Aber bevor man selbst ein Urteil fällen kann, bekommt Scout durch einen Zeitungsartikel mit, was gleichzeitig in Europa (1935) los ist und stellt Hitlers Rassenwahn den eigenen Selbstverständlichkeiten gegenüber. Eine absolut unerwartete Perspektive, die diese Geschichte aus der Masse des Üblichen hervorhebt und einen wichtigen Kontrapunkt setzt.