Rezension

Einmal Hölle und zurück

Wer die Hölle kennt -

Wer die Hölle kennt
von Leigh Bardugo

Bewertet mit 5 Sternen

Originalität & Einfallsreichtum

Wie schon der erste Band der Reihe, »Ninth House« (dtsch. »Das Neunte Haus«) ist auch die Fortsetzung höllisch originell – wobei die Betonung auf ‘höllisch’ liegen sollte. Die Atmosphäre ist wieder zutiefst düster, die Geschichte packend und immer am Rande des Horrors … Oder darüber hinaus. Letzteres häufiger als im ersten Band, aber hier geht es immerhin darum, dass Charaktere buchstäblich zur Hölle fahren, um Darlington zu retten. Das ist nichts für Zartbesaitete.

Ich liebe Leigh Bardugos Gespür für Details, die ihre Welt so viel reicher, origineller und tiefgründiger machen. Ok, und manchmal auch einfach witziger, obwohl der Humor schwärzer ist als mein morgendlicher Kaffee. Er sorgt für die nötige Balance zwischen hartem Horror, bestürzend gesellschaftskritischer Zwischentöne und magischer Fantasy.

Magie & Realität

Alex Stern muss feststellen, dass es immer noch Dinge gibt, die sie über die Magie ihrer Welt nicht wusste. Mit Dämonen ist sie schon hinreichend vertraut, aber mit Vampiren hatte sie es bisher nicht zu tun.

Aber nein, keine Sorge, Leigh Bardugo driftet nicht ab in die Gefilde von Twilight. Für ihre Vampire gibt es eine Erklärung, die hundertprozentig ins Magiesystem passt, das wir im ersten Band kennengelernt haben. Und sie glitzern nicht.

Auch die Hölle passt nahtlos ins Weltbild. Sie bringt unsere Charaktere an den Rand dessen, was sie ertragen können – und enthüllt überraschende, schockierende Dinge über sie. Wie die Protagonist:innen die Hölle erleben und wie sie danach mit diesen Erlebnissen umgehen, das liest sich fast wie eine psychologische Fallstudie über Trauma und posttraumatischen Stress. Wie schon im ersten Band verankert die Autorin ihre magische Welt in der Realität, inklusive deren unschöner Aspekte.

Charaktere

In diesem Band spielen Charaktere, die in den ersten Bänden nur am Rande auftauchten, eine zentrale Rolle: Alex’ Mitbewohnerin Mercy und der gechillte, etwas dusslige Tripp. (Und ganz ehrlich, ich war überrascht, wie sehr mir der ans Herz wuchs.) Die Kerngruppe der Protagonist:innen besteht nun also aus Alex, Darlington, Dawes, Turner, Mercy und Tripp.

Wer die Tore zur Hölle öffnen will, muss bestimmte Bedingungen erfüllten – für vier Tore müssen vier Mörder:innen ihr Blut geben. Alex selber erfüllt diese Bedingung, weil sie ja Len und seine Kumpane getötet hat. Aber dass sie tatsächlich drei Mitstreiter:innen findet, die diese Bedingung ebenfalls erfüllen, war gelinde gesagt eine ziemliche Überraschung. Könnt ihr erraten, wer mit Alex zur Hölle fährt?

Hier verschwimmen die Grenzen zwischen Gut und Böse. Wann hat man das Recht, jemandem das Leben zu nehmen? Den Dämonen der Hölle ist diese moralische Frage allerdings ziemlich egal.

Je weiter ich im Buch vorankam, desto mehr wirkten die Charaktere auf mich wie aus einer Serie von Joss Whedon gegriffen (vor allem »Buffy« oder »Firefly«). Was ich nicht abwertend meine! Diese Mischung aus Humor, Horror und überraschend komplexen Charakteren ist genau mein Ding.

Spannungsbogen

Obwohl ich normal eine sehr langsame Leserin bin, habe ich die 576 Seiten dieses Buches an einem Wochenende weggesuchtet. Es steht so viel auf dem Spiel, dass man nie weiß, wer überleben wird und wen die Hölle möglicherweise für immer verändert. Und jetzt sitze ich hier und frage mich, wie lange ich auf den dritten Band warten muss, weil ich JETZT weiterlesen will.

Schreibstil

Der Schreibstil gefällt mir unvermindert gut, allerdings habe ich den ersten Band auf Englisch gelesen, diesen hier jedoch auf Deutsch. Die Übersetzung überzeugte mich von Kapitel zu Kapitel mal mehr, mal weniger, was vielleicht daran liegt, dass hier direkt vier Übersetzer:innen am Werk waren. Aber im Durchschnitt gesehen ist es sicher eine gelungene Übersetzung; auch die schwächeren Kapitel sind immer noch keineswegs schlecht.

Fazit

Darlington sitzt in der Hölle fest, und Alex muss ein Team zusammenstellen, dass gewillt ist, Leib und Seele zu riskieren, um ihn zu retten. Niemand kann diese Tore durchschreiten, der nicht schon Schuld auf sich geladen hat, und niemand wird zurückkehren, ohne unwiderruflich verändert zu sein.

Die Charaktere, ein diverses Grüppchen, haben sich seit dem ersten Band eingegroovt und sind nun beinahe ein seltsames Superheldenteam – jedoch eines, in dem Gut und Böse nicht immer einfach zu bestimmen sind. Und gerade das macht es so interessant!

Wer den ersten Band gelesen hat, braucht die Triggerwarnung wahrscheinlich nicht mehr, aber nur für alle Fälle sei sie hier dennoch verlinkt.