Rezension

Fliegenpilze aus Kork

Fliegenpilze aus Kork - Marie Luise Lehner

Fliegenpilze aus Kork
von Marie Luise Lehner

Bewertet mit 4 Sternen

Eine ungewöhnliche Vater-Tochter-Beziehung. Sie tun Dinge, die andere nicht tun. Sie wühlen im Müll, sie basteln Fliegenpilze aus Kork, sie leben auf unkonventionelle Weise. Immer wenn sie Zeit bei ihrem Vater verbringt, ist diese wie ein Abenteuer, eine Reise in eine andere Welt, in der bekannte Normen und Regeln nicht gelten, sondern auf den Kopf gestellt werden. Auch die berufliche Situation des Vaters ist anders als bei anderen: Gelegenheitsjobs wechseln sich mit Arbeitslosigkeit ab, mal liest er im Selbststudium philosophisch-anthropologische Texte, immer hilft er den Menschen in seinem Umfeld, die Unterstützung brauchen. Dabei wäre er selbst oft auf solche angewiesen. Mit zunehmendem Alter beginnt die Tochter, die Muster zu durchschauen und zu verstehen, was es mit ihrem Vater auf sich hat und löst damit die enge, vorurteilsfreie Beziehung nach und nach auf.

 

Marie Luise Lehrners Roman Fliegenpilze aus Kork fällt schon durch die ungewohnte Gestaltung des Umschlags ins Auge. Die wilden Pinselstriche, die kein fertiges Bild, keine harmonisches Ganzes entstehen lassen, sondern eher Ausdruck einer spontanen Emotion oder der Aufgabe vor Vollendung zu sein scheinen, passen hervorragend zum Inhalt der Geschichte.

 

Erzählt wird aus der Sicht der Tochter, die Kapitel folgen ihrem Alter, so ist jedem Lebensjahr ein Abschnitt gewidmet. Zunächst sehr kurz, dann immer länger werdend bis hin zum Erwachsenenalter. So wie das Mädchen älter und reifer wird, wandelt sich auch ihr Blick auf den Vater. Das junge Kind sieht das Zusammensein als Abenteuer, hinterfragt die Gegebenheiten nicht, sondern nimmt diese wahr und beschreibt sie in einem unverblümten Ton. Als sich der Blick über den Tellerrand der eigenen Familie hinaus wendet, wird ihr zunehmend klar, dass ihr Vater anders ist als andere und dass in ihrem Leben ein anderer Maßstab herrscht als dies bei anderen der Fall ist. Fast erwachsen beginnt sie kritischer zu werden und so einen Bruch herbeizuführen, auch bedingt durch die Tatsache, dass es eine jüngere Halbschwester gibt, in der sie sich zum Teil wiederkennt. Das, was sie als spannend und ungewöhnlich empfand, ordnet sie nun anders ein und bewertet es, wie auch die Außenwelt auf den Vater blickt, was die beiden zwangsweise voneinander entfernt.

 

Der Roman bringt einem als Leser in eine emotionale Zwickmühle. Zunächst ist man mit der Erzählerin positiv gestimmt, nicht jeder soll und muss der Norm entsprechen und gerade die Abweichungen sind oft spannend. Die kleinen Unzulänglichkeiten des Vaters kann man gerne übersehen, dass er sein Kind liebt und der Tochter wichtige Dinge fürs Leben zu vermitteln vermag, ist augenscheinlich. Doch kommen mehr und mehr auch Zweifel auf, so wie das Kind älter wird und vermehrt hinterfragt. Ist es wirklich günstig, bei einem Mann, der kaum für sich selbst sorgen kann, ein Kind in Obhut zu lassen? Oft mangelt es an Geld und dadurch an Nahrung – von der Qualität ist noch gar nicht zu sprechen. Welches Vorbild ist er ihnen? Und die zunehmenden etwas zickigen Verweigerungen der Kommunikation weisen auch nicht auf Erwachsenen-adäquates Verhalten hin. Dennoch behandelt er die Töchter auch gut und durchaus liebevoll – wie soll man ihn letztlich beurteilen?

 

Vielleicht sollte man aber genau darauf verzichten. Es fehlt die Instanz des Erzählers, der einordnet, einen neutralen Blick wirft und beurteilt. Man hat nicht den Eindruck, dass es der jungen Ich-Erzählerin an etwas ernsthaft mangelt, vor allem nicht emotional; mit zunehmendem Alter kann sie sich eine eigene Meinung bilden, sich lösen und eigene Wege gehen. Das Erwachsenwerden hat letztlich hervorragend geklappt – kommt es nicht darauf nur an?