Rezension

Gestrandet auf Südgeorgien

Herz auf Eis
von Isabelle Autissier

Bewertet mit 4.5 Sternen

"In den wichtigsten Momenten ist der Mensch allein, denkt Louise. Wenn es um das Leben, um den Tod, um Entscheidungen von größter Wichtigkeit geht, zählt der andere nicht mehr. Sie muss ihn vergessen und leben. Das ist ihr unbedingtes Recht, ihre Pflicht sich selbst gegenüber."

Eigentlich dürften sie gar nicht dort sein. Sie haben sich nichts weiter dabei gedacht, ein kleiner Abstecher, wer sollte das denn jemals erfahren, da ist doch nichts dabei. Es konnte doch niemand erwarten, dass der Sturm über Nacht ihr Boot forttreiben würde und sie dort gefangen wären, auf der Insel aus Fels und Eis irgendwo zwischen Südamerika und dem Südpol. Auf einer Insel, die unter Naturschutz steht, und deren einzige Bewohner Pinguine und Robben sind. Ohne Vorräte, ohne Ausrüstung. Nur sie beide, Louise und Ludovic, die eine Weile dem Pariser Leben entfliehen und ihr Sabbatjahr mit Segeln, Wandern und Bergsteigen verbringen wollten. Doch nun sind sie hier, ihre einzige Nahrungsquelle sind die Pinguinkolonien auf der Insel, ihr Zufluchtsort eine alte Walfangstation aus den 50ern. Was wird das mit ihnen machen, die Kälte, der ständige Hunger, das Wissen, auf sich allein gestellt zu sein, weil niemand jemals auf den Gedanken kommen wird, ausgerechnet hier nach ihnen zu suchen, wo sie doch eigentlich gar nicht hier sein dürften? Was wird das aus ihnen machen, ihnen als Paar - ihnen als Menschen?

Robinsonaden sind nicht einfach, nie. Es muss das richtige Maß gefunden werden an Gefühlen wie Beklemmung, Hoffnung und dem Aufgeben derselben, dem Handeln, das aufs Überleben abzielt, und den Gedanken der Protagonisten. Dem Gefühl der Ohnmacht. Auch an Klischees. Nicht zu viel und nicht zu wenig, das ist das Komplizierte daran. Es muss glaubwürdig bleiben und gleichzeitig erschrecken. Das ist Isabelle Autissier in "Herz auf Eis" wunderbar gelungen, sie gibt einen tiefen Einblick in die Gefühlswelt der Protagonisten, insbesondere in die Louises, zeigt Hoffnung genauso wie Niedergeschlagenheit und Machtlosigkeit. Ihr gelingt es, die Entwicklung und Veränderung zu porträtieren, welche Louise und Ludovic durchmachen, sie beide für sich allein, aber auch sie beide gemeinsam als Paar. Sicher hätte die Geschichte ganz anders ausgesehen, wäre von vorneherein nur einer von beiden auf der Insel gestrandet. Das ist ein sehr interessanter Aspekt, dieses Gemeinsam-Gefangensein, ein Umstand, der der Autorin viele Möglichkeiten eröffnet, ebenso wie den Protagonisten. Nur, dass es für die beiden nicht immer nur eine "Möglichkeit" im positiven Sinne bedeutet, sondern in vielen Punkten auch eine Einschränkung.

Es ist zutiefst faszinierend, einen Einblick in die Psyche von Menschen zu erhalten, die sich in Extremsituationen befinden. Es bringt einen unweigerlich dazu, sich zu fragen - wie hätte ich in diesem Moment gehandelt? 

Es ist ein leicht beklemmendes Gefühl, das sich während des Lesens einstellt, sicherlich wird dies noch durch den Schreibstil verstärkt und dadurch, dass die Geschichte im Präsens verfasst ist. Zwar in der 3. Person, doch der personale Erzählstil konzentriert sich stark auf Louise, womit Ludovic im Verlauf der Geschichte beinahe zur Nebenfigur wird - auch das ein gekonnter Schachzug, der die Veränderung in Louises Denkweise betont.

Die Geschichte ist zweigeteilt, in "Dort" und in "Hier". Der zweite Teil ist etwas schwächer als der erste, doch tut dies der Atmosphäre und dem Packenden der Thematik kaum einen Abbruch. Auch hier liegt der Fokus wieder sehr auf der Gefühlswelt Louises und bringt zusätzlich einen moralischen Aspekt ins Spiel.

 

Eine schwierige Thematik, die hier auf sehr gekonnte Weise angegangen wird. Es ist ein faszinierendes Buch, das erschüttert - nicht nur die Protagonisten, denn es wird auch an den Grundfesten unserer persönlichen Illusion der Geborgenheit und Sicherheit gerüttelt. Die Willkürlichkeit, mit der ausgerechnet Louise uns Ludovic in eine solche Situation geraten sind, eine Situation, die sie sich niemals hätten erträumen können - diese Willkürlichkeit, dieses Unvorhersehbare, es beunruhigt und wirft die Frage auf, inwiefern wir uns moralisch wirklich auf eine höhere Stufe stellen und über andere Menschen urteilen können, wo wir doch gar nicht wissen, wie wir in einer vergleichbaren Situation gehandelt hätten.

 

Mich hat das Buch sehr fasziniert, insbesondere der erste Teil. Im zweiten hat die Geschichte, wie gesagt, etwas nachgelassen in meinen Augen, daher "nur" 4 Sterne - dennoch, es ist ein Buch, das man so schnell nicht vergisst und das ich beim Lesen kaum mehr aus der Hand legen wollte!