Rezension

Großartiges Debüt

Lebt - Orkun Ertener

Lebt
von Orkun Ertener

Inhalt

Can Evinman verdient sein Geld als Ghostwriter und erhält den Auftrag die Autobiographie der Schauspielerin Anna Roth zu schreiben. Während der Arbeit erhält er Hinweise, die mit seiner Kindheit zusammenhängen. In diesen erfährt er mehr über die Hintergründe, die dazu führten, dass seine Eltern vor 35 Jahren starben und ihn als achtjährigen alleine zurück ließen. Annas Vergangenheit ist mit seiner verknüpft, wie Can feststellen muss. Auf der Suche nach Antworten, führt eine erste Spur die beiden nach Thessaloniki, welches nur eine von vielen Etappen ist, um der Wahrheit näher zu kommen. 

Meine Meinung

Ich möchte meine Rezension mit einem Zitat beginnen, welches zu großen Teilen das ausdrückt, wie ich das Buch sehe. In "Lebt" sagt dies Can Evinman über den neuen Roman seines besten Freundes Georg:

Georgs Roman ist nicht gut, er ist überragend. Spannend wie ein Thriller vom ersten bis zum letzten Satz, anrührend und aufwühlend, in der Recherche schockierend präzise, von einer schmerzhaften historischen Klarheit, unterhaltsam und verstörend zugleich (S. 631)

Ich würde zwar nicht unbedingt  das Wort "überragend" benutzen, komme aber nicht umhin, dem Rest zustimmen zu müssen. Der Autor schrieb vor seinem Debüt hauptsächlich Drehbücher für das Fernsehen, was man seinem Schreibstil auch anmerkt. Es gibt viele filmreife Szenen, die auch sehr gut in einem Hollywood-Blockbuster hätten enthalten sein können.

Orkun Etener schreibt einen wohl recherchierten Roman, in dem ich viel dazu gelernt habe. Beginnen möchte ich mit dem Begriff "Dönme", den ich zuvor nicht kannte, der aber in der Geschichte von zentraler Bedeutung ist. Die Dönme sind Mitglieder einer kryptojüdischen Religionsgemeinschaft in der Türkei. Ihre Zahl wird auf 30-40.000 Mitglieder geschätzt, die nach außen hin den Islam praktiziert und nach einer Massenkonversion in Thessaloniki leben. Mir war weder der Begriff noch die Glaubensrichtung bisher bekannt, sodass ich die Hintergründe zunächst sehr interessant fand. Aber leider schweift der Autor in seinen Recherchen ab und erzählt zu viel, als das es noch an die historischen Begebenheiten fesseln könnte. Dieser Teil war jedoch auch schon der einzig ermüdende und wenig unterhaltsame des Buchs.

"Lebt" ist abgesehen davon jedoch unglaublich packend und bietet unzählige Wendungen, die so geschickt in die Geschichte eingeflochten werden, dass ich das Buch nicht aus der Hand legen konnte. Sobald man einen Schritt weiter ist, kommen schon wieder neue Fragen hinzu, bis zu der alles entscheidenden Auflösung, die nicht nur Can Evinman und Anna sondern auch mich schockiert und überrascht hat, wirft sie doch die Frage auf, wie leicht man zur Marionette eines anderen wird, wenn man doch glaubt ein eigenbestimmtes Leben zu führen. In diesem Zusammenhang hat mir besonders gut gefallen, dass man keinem der Protagonisten so wirklich trauen konnte. Selbst bei den engsten Familienmitgliedern und Freunden blieb immer eine Zweifel zurück, ob derjenige vertrauenswürdig ist oder doch eher Vorsicht geboten sein sollte. Sogar auf den letzten fünf Seiten, bei denen ich dachte, dass nun alles restlos geklärt wäre, kam es erneut zu einer Überraschung, mit der ich nicht gerechnet hätte und dann aber mit einem Schmunzeln das Buch schließen konnte.

Fazit

Orkun Ertener ist mit seinem Debüt ein intelligenter, dicht erzählter und packender Roman gelungen. Spannend wie ein Thriller, präzise recherchiert, gespickt mit vielen Wendungen und Überraschungen. Großartig!