Rezension

Jula gegen Juliane

Trümmergöre - Monika Held

Trümmergöre
von Monika Held

Bewertet mit 4.5 Sternen

Jula ist ein kleines Mädchen in der Hamburger Nachkriegszeit. Für sie sind Trümmer und halbe Häuser normal. Sie spielt "Der Russe kommt", "Wir bauen ein KZ" oder "Opa hat sein Bein verloren". Am liebsten ist sie auf dem Platz, wo ihr Onkel Gebrauchtwagen verkauft, ihre Schularbeiten macht sie in der Kneipe auf der Reeperbahn. Als sie zwölf wird, holt sie ihr Vater - der im diplomatischen Dienst und deshalb abwesend war -, um aus der "versauten Göre" eine höhere Tochter zu machen. Und Jula beginnt ein perfektes Doppelleben zwischen Alstervilla und Ganovenkiez.

Die Fahrlehrerin Jula, wohnhaft in Hamburg, führt seit einigen Jahren mit einem schwäbischen Zahnarzt eine Fernbeziehung; sie suchen nach einer Möglichkeit, zusammen zu ziehen, als Jula zufällig in der Zeitung auf eine Annonce stößt, in der die Wohnung angeboten wird, wo sie ihre Kindheit verbrachte.
Vom Vater wurde sie mit vier Jahren bei der Großmutter abgesetzt, weil er – verwitwet – im auswärtigen Dienst von Land zu Land geschickt wurde. Julas Oma lebte zusammen mit ihrem zweiten Sohn in der Wohnung, aber so, dass beide sich nie begegneten. Erst am Ende des Buches erfahren Jula und der Leser, warum.
Acht Jahre später holt der Vater sie wieder zu sich. Er ist nun sesshaft und wünscht, dass seine Tochter fleißig, ehrgeizig und bürgerlich wird. Doch Oma und Onkel habe sie zu sehr geprägt.

Vor dem Auge des Lesers ersteht Hamburg zur Nachkriegszeit, verwüstete Straßenschluchten, Häuserruinen, Schutt, Steine, Müll durchsetzt mit Überbleibseln aus Haushalten und Einrichtungen. Aber die ersten Gewinner des Chaos treten bereits auf und bereiten sich auf das vor, was später „Wirtschaftswunder“ genannt werden soll.
Die Großmutter achtet auf Jula, sorgt sich um sie und bietet ihr ein Zuhause. Doch wirklich zuhause ist das Mädchen bei seinem Onkel, der mit einem Gebrauchtwagenhandel viel und schnell Geld verdient, kennt nach einiger Zeit Automarken und Innenleben der verschiedenen Wagen. Gegenüber der Freiheit ist Schulwissen zweitrangig.
Das soll sich beim Vater ändern. Nach schmerzhaftem Abschied von der Großmutter, dem Onkel und dessen zwielichtigen Freunden gelingt es Jula, ihren Tag zwischen dem Vater und dem Autohandelsplatz aufzuteilen. Bis der Onkel anfängt, seltsam zu werden.

Großmutters alte Wohnung wird für Jula zum Inbegriff der Erinnerungen, der schönen und der wehmütigen. Zugleich verfängt sie sich auch in ihnen, kann immer noch nicht loslassen. Noch ist nicht jeder Punkt geklärt – mancher wird es nie – und noch immer geistert das Wort „Warum“ durch Julas Kopf, obwohl die Großmutter ihr den Spruch „Schutzengel beantworten keine Warum-Fragen“ mitgegeben hatte.

Es geht letztlich darum, ob Jula es fertig bringt, mit ihren Erinnerungen so zu leben, dass sie nicht zu einer Last für ihre und die mögliche gemeinsame Zukunft mit Erik werden. Ob sie akzeptieren kann, dass manche Geheimnisse im Dunkeln bleiben, und ob sie verzeihen kann.

Nach ihrem Buch „Der Schrecken verliert sich vor Ort“, in dem es um das Überleben nach Auschwitz geht, hat Monika Held auch mit diesem Roman wieder ein sehr lesenswertes Buch geschrieben, in dem es auch um ein Überleben in einer schweren Zeit geht und um Protagonisten, die es trotz (oder wegen?) ihrer Vergangenheit schaffen, ein gutes Leben zu führen, zu arbeiten, zu lieben und sich selbst treu zu bleiben.

Empfehlenswert!